BundespräsidiumHistorische Schlappe für Calmy-Rey
Micheline Calmy-Rey wurde zur Bundespräsidentin gewählt – mit dem wohl schlechtesten Resultat aller Zeiten. Sie kam auf nur 106 Stimmen.

Lächeln trotz schlechtem Resultat: Die frischgewählte Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey schreitet zum Apéro.
Dass Micheline Calmy-Rey heute zur Bundespräsidentin gewählt würde, daran zweifelte gestern Abend niemand mehr. Die Frage war nur: mit wie vielen Stimmen? Die heutige Antwort ist eine schallende Ohrfeige für die SP-Bundesrätin. Sie erhielt lediglich 106 Stimmen - ein klares Misstrauensvotum. Nicht einmal die Hälfte aller Parlamentarier stellten sich hinter Calmy-Rey.
Der Denkzettel war angekündigt und zielte auf das Verhalten Calmy-Reys in der Libyen-Krise. Die ständerätliche Gschäftsprüfungskommission (GPK) wirft der SP-Bundesrätin vor, während der Krise ihre Kompetenzen überschritten zu haben. Die Aussenministerin hatte den Bundesrat nicht über Fluchtpläne für die beiden Schweizer Geiseln ins Bild gesetzt. Zwar hatten vor der Wahl sämtliche Fraktionen die Wahl Calmy-Reys unterstützt. Beinahe hätte ihr aber die Schmach eines zweiten Wahlgangs gedroht.
Mit ihren 106 Stimmen - seit Einführung des Proporzwahlsystems im Jahr 1919 wurde noch nie jemand mit so wenigen Stimmen ins Bundespräsidium gewählt - lag sie nur knapp über dem absoluten Mehr von 95 Stimmen. Einzig der damalige FDP-Bundesrat Marcel Pilet-Golaz erhielt bei der Wahl zum Vizepräsidenten 1938 mit 99 noch weniger Stimmen. Allerdings stand damals der Zweite Weltkrieg unmittelbar bevor und Pilet-Golaz war als Freund Nazi-Deutschlands bekannt.
Ritschard und Tschudi erhielten mehr als doppelt so viele Stimmen wie Calmy-Rey
Das bisher schlechteste Resultat der letzten 90 Jahre bei der Wahl ins Bundespräsidium erzielte Edmund Schulthess 1920, der aber immerhin 30 Stimmen mehr erhielt als Calmy-Rey heute. Spitzenresultate erzielte dagegen Hans Hürlimann (CVP), Willi Ritschard (SP) und Hans-Peter Tschudi. Während Hürlimann bei seiner Wahl ins Bundespräsidium mit doppelt so vielen Stimmen gewählt wurde wie Calmy-Rey, erhielten die beiden SP-Bundesräte 1977 beziehungsweise 1969 sogar 213 Stimmen.
Ungewöhnlich viele Parlamentarier gaben am Mittwochmorgen ihre Stimme anderen Bundesräten. Didier Burkhalter erhielt 33, Ueli Maurer 20, Eveline Widmer-Schlumpf 20 und Simonetta Sommaruga 10 Stimmen. Dass Calmy-Rey nicht noch schlechter abschnitt oder gar nicht zur Bundespräsidentin gewählt wurde, verdankt sie einzig dem Umstand, dass als Alternative Widmer-Schlumpf im Vordergrund stand. Und diese wäre in den Augen der SVP das noch grössere Übel gewesen.
«Vom Regen in die Traufe»
Der Zürcher SVP-Nationalrat Hans Fehr bemerkte gestern Abend dazu: «Mit der Wahl Widmers kämen wir vom Regen in die Traufe.» Wer die Partei einmal angelogen habe, könne nicht erwarten, von dieser gewählt zu werden. Fehr sprach damit die Wahl Widmer-Schlumpfs in den Bundesrat 2007 an, bei der sie ihrer Partei zuvor glaubhaft versichert haben soll, eine allfällige Wahl nicht anzunehmen.
Bei der heutigen Wahl zur Vizepräsidentin dürfte Widmer-Schlumpf deshalb keine Stimmen der SVP-Fraktion erhalten haben. Alle anderen Fraktionen hatten ihre Wahl im Vorfeld unterstützt. Mit den erhaltenen 146 Stimmen wurde jedoch deutlich, dass auch Dutzende Parlamentarier ausserhalb der SVP-Fraktion Widmer-Schlumpf die Stimme verweigerten.