«Westen und Osten sind tief gespalten»

Aktualisiert

Nahostexperte«Westen und Osten sind tief gespalten»

Was kommt nach Gaddafi? ETH-Forscher Roland Popp schliesst einen Bürgerkrieg in Libyen nicht aus. Ein gelungener Umsturz könne das Land aber einen.

von
Peter Blunschi

Die wenigsten Kenner der Region haben vermutet, dass nach Ben Ali und Mubarak ausgerechnet Gaddafi an der Reihe sein würde.

Roland Popp: Da haben Sie recht. Das lag aber auch daran, dass man über Libyen viel weniger wusste als über andere arabische Staaten. Das Land hat sich gegenüber der Aussenwelt jahrelang verschlossen.

Was ist passiert?

Die Unzufriedenheit war offenbar ähnlich gross wie in Tunesien und Ägypten. Nachdem die Volksaufstände dort Erfolg gezeitigt hatten, haben auch die Libyer Mut gefasst und sind auf die Strasse gegangen.

Diplomaten, Minister, Militärs sind zur Opposition übergelaufen. Hat man das Frustpotenzial in Libyen unterschätzt?

Ja, wobei die Desertionen der letzten Tage auch Ausdruck der gespaltenen Stammesgesellschaft sind. Und einige Offizielle rechnen offenbar mit einem Niedergang Gaddafis und wollen sich rechtzeitig auf die siegreiche Seite schlagen.

Kann Gaddafi die Revolte niederschlagen?

Rein militärisch vermutlich schon, doch dafür benötigt er die Loyalität der kampfstärksten Einheiten. Einige Einheiten, insbesondere die von seinen Söhnen kommandierten, sind ihm treu ergeben. Die Mehrheit der regulären Armee und einige paramilitärische Verbände haben aber offenbar bereits die Seite gewechselt. Wie wenig er der Loyalität der regulären Truppen vertraut, zeigt nicht zuletzt sein Einsatz afrikanischer Söldner.

Sollte der Westen eingreifen?

Der Westen kann wenig tun, was über rhetorischen Beistand hinausgeht. Sanktionen wirken sich kaum in einem kurzen Zeitraum aus. Eine Flugverbotszone nach irakischem Vorbild wäre schon etwas anderes, allerdings ist sie wohl schwer international durchzusetzen.

Italien fürchtet eine enorme Flüchtlingswelle.

Angesichts des Chaos ist die Sorge berechtigt. Hier ist wohl europäische Solidarität gefragt.

Die grosse Frage lautet: Was kommt nach dem Sturz Gaddafis?

Sehr schwer vorauszusehen. Es gibt nur begrenzt staatliche Strukturen, auf denen man aufbauen kann. Es gibt auch keine Verfassung mehr. Hinzu kommen die wichtigen Stammes- und Clanstrukturen. Vermutlich müsste eine neue Ordnung auf einer Einbindung dieser Strukturen beruhen. Sehr bedenklich ist die tiefe Spaltung zwischen Tripolitanien und der Kyrenaika, dem West- und dem Ostteil des Landes.

Gibt es überhaupt so etwas wie ein libysches Nationalgefühl?

Selbstverständlich gibt es das, aber die Spannungen zwischen Westen und Osten sind nicht zu übersehen. Auffällig ist, dass viele Protestler die alte libysche Nationalflagge führen.

In Libyen gibt es keine funktionierende Opposition. Wer soll das Vakuum füllen?

Wie in Tunesien oder auch Ägypten handelt es sich offenbar auch hier um einen echten Volksaufstand, der ohne grosse organisierte Opposition auskommt. Allerdings spielen Islamisten offenbar hier eine grössere Rolle als in den anderen beiden Ländern.

Kann es zum Bürgerkrieg kommen? Pessimisten sprechen von einem zweiten Somalia.

Sollte sich Gaddafi im Westen halten können, droht das in der Tat. Einen «Failed State» wie Somalia befürchte ich aber nicht, dafür ist das Land dann wohl doch zu gefestigt. Aber länger anhaltende Unruhe mit entsprechenden Auswirkungen auf die europäische Ölversorgung ist sicher zu befürchten.

Könnte Libyen ein zweiter Irak werden, ein mehr schlecht als recht funktionierender Staat mit einer prekären Machtbalance zwischen den Volksgruppen?

Nicht auszuschliessen. Allerdings sind die innerlibyschen Spaltungen bei weitem nicht so tief wie diejenigen zwischen irakischen Kurden, Schiiten oder Sunniten. Zudem dürfte der gemeinsam errungene Umsturz, so er denn gelingt, ein grosses Gemeinschaftsgefühl und Solidarität erzeugen, auf die man beim Neuaufbau zählen könnte.

Sie haben die Islamisten erwähnt. Bei diesem Stichwort läuten bei vielen im Westen die Alarmglocken. Welche Rolle können sie in einem künftigen Libyen spielen?

Die islamistische Bewegung in Libyen wurde von Gaddafi brutal unterdrückt, verfügt allerdings über eine beachtliche Gefolgschaft gerade im Ostteil des Landes. Experten gehen davon aus, dass einige Gruppen auch gewaltbereit sind. Es dürfte nicht leicht fallen, diese in ein neues System zu integrieren. Allerdings glaube ich nicht, dass die Libyer ein repressives Militärregime gegen eine islamistische Diktatur tauschen wollen.

Der Historiker Roland Popp ist Senior Researcher am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. In seiner Forschung beschäftigt er sich vor allem mit aktuellen Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten und mit der Geschichte des Kalten Kriegs in der Nahostregion.

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