Ein «Gay Girl» führt die Medien in die Irre

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Mysteriöse BloggerinEin «Gay Girl» führt die Medien in die Irre

Mit ihrem Blog wurde die angeblich lesbische Amina Arraf zur Stimme der syrischen Proteste. Seit Montag ist sie verschwunden und die Welt rätselt: Hat sie jemals existiert?

von
Senta Keller
Mit diesem Bild sucht die Facebook-Gruppe FreeAmina nach der Vermissten (Quelle: Facebook).

Mit diesem Bild sucht die Facebook-Gruppe FreeAmina nach der Vermissten (Quelle: Facebook).

Ende Februar war der arabische Frühling in vollem Gange und verhiess in zahlreichen arabischen Staaten Freiheit und Wandel. Tunesiens Ben Ali war bereits geflohen, Hosni Mubarak hatte sich in Ägypten dem Druck der Strasse gebeugt und auch in Libyen fanden erste Proteste statt. Die syrisch-amerikanische Doppelbürgerin Amina Abdallah Arraf entschied sich in Damaskus, bei den Umwälzungen in der arabischen Welt mitzumachen und startete den Blog «A Gay Girl in Damascus» – mit weitreichenden Folgen. Am 6. Juni soll Arraf verhaftet worden sein, internationale Medien reagierten empört. Inzwischen beschäftigen sie sich aber vor allem mit der Frage: Existiert Amina Arraf überhaupt oder ist man einem Internet-Phantom aufgesessen?

Aufmerksamkeit erregte Amina Arrafs Blog vor allem, da sie sich mit Name und Foto öffentlich zu ihrer Homosexualität zu bekennen schien. «Ich lebe in Damaskus in Syrien. In einem repressiven Polizeistaat. Die meisten schwulen, lesbischen und bisexuellen Menschen versuchen, so unsichtbar wie möglich zu bleiben. Aber ich habe einen Blog eingerichtet, in dem ich meine Sexualität angebe, mit meinem Foto. Bin ich verrückt?» fragte die 35-Jährige in einem ihrer ersten Einträge. Sie wolle Teil des Umsturzes sein, schrieb sie am 21. Februar. «Ich muss damit anfangen, etwas Mutiges und Sichtbares zu tun.»

Name und Telefonnummer auf dem Arm

In den folgenden Wochen berichtete sie aus Damaskus. Sie schneide sich die Nägel kurz, damit man sie ihr nicht ausreissen könne, wenn sie gefangen genommen werde. Wenn sie an den Protesten teilnehme, schreibe sie sich jeweils ihren Namen und ihre Telefonnummer auf den Arm, damit man ihre Familie informieren könne, falls sie sterbe. Auf den im Web kursierenden Fotos sieht man eine junge hübsche Frau, mit braunem Bob. Scheinbar furchtlos und offen. Und dann auch noch lesbisch – die internationale Medienlandschaft hatte in Amina die Identifikationsfigur des syrischen Widerstands gefunden. Vor allem der Text, «My father, the hero», den sie Ende April gepostet hatte, sorgte weltweit für Aufsehen. Arraf beschreibt darin, wie mitten in der Nacht zwei Männer in ihre Wohnung gekommen seien und sie verhaften wollten. Ihr Vater habe auf die beiden Geheimagenten mit harschen Worten reagiert und so Aminas Verhaftung abgewandt.

Der Beitrag über ihren Vater wurde über 430 000 mal gelesen. Die Presse war entzückt. In Syrien sei es ausgesprochen selten, dass sich jemand offen zu seiner Homosexualität bekenne, schreibt die «Huffington Post». Noch seltener sei es, wenn Eltern dies verteidigen. Der «Guardian», die «New York Times» und die «Washington Post» berichteten über die Bloggerin. CNN führte per E-Mail ein Interview mit ihr.

Entsprechend gross war das Medienecho, als Arraf vergangenen Montag entführt wurde, wie es im letzten Blogeintrag vom 6. Juni 2011 heisst, den ihre Cousine Rania Ismail aufgeschaltet hatte. Arraf habe sich mit einem syrischen Aktivisten treffen wollen, als sie im Zentrum von Damaskus von drei bewaffneten Menschen in ein Auto gezerrt worden sei. Seit ihrem Verschwinden habe man nichts von ihr gehört. In Online-Foren wird seither darüber spekuliert, ob ihr der amerikanische Pass helfen könne, aus dem Gefängnis zu kommen. Mehrere Facebook-Seiten rufen bereits dazu auf, Amina freizulassen – mit Zehntausenden Supportern.

Zweifel an Amina Arrafs Echtheit

Amina Arrafs plötzliche Bekanntheit hat jetzt aber die Medien, die zuvor so ausführlich über sie berichtet hatten, plötzlich an der Echtheit der Bloggerin zweifeln lassen. Die Londonerin Jelina Lecic beklagte nämlich, das publizierte und im Netz verbreitete Foto von Amina Arraf zeige in Wirklichkeit sie selbst. Zeitungen wie «The Guardian» oder «Huffington Post» entfernten danach das Foto von ihrer Seite. Der Auftritt von Jelina Lecic bei BBC Newsnight hat inzwischen bestätigt, dass es sich bei dem von Amira Arraf gezeigten Foto tatsächlich um Lecic handelt, wie das Video zeigt:

Zuvor hatte bereits die «New York Times» Aminas Echtheit angezweifelt. Erstmals versuchten die Medien herauszufinden, ob Amina Arraf überhaupt existiert: Doch die Überprüfung von Arrafs Identität ergab nichts Konkretes. Die «Washington Post» schreibt, dass viele syrische Aktivisten zwar angeben, mit Arraf online Kontakt gehabt zu haben, niemand habe sie aber jemals getroffen. Emails an die angebliche Cousine von Araf, Rania Ismail, seien bisher unbeantwortet geblieben. Sandra Bagaria, die die Freilassungskampagne gestartet hatte und sich als Freundin Aminas bezeichnet, sagte ebenfalls, mit Arraf nur per E-Mail kommuniziert zu haben. Angela Williams von der US-Botschaft in Damaskus sagte gegenüber dem «Guardian», dass bislang keine Details des Blogs überprüft werden konnten und dass man noch nichts von einer Person gehört habe, die unter diesem Namen in Damaskus lebe und jetzt im Gefängnis sei.

Schwierige Überprüfung der Quellen in Krisenregionen

Aussergewöhnlich sei dies nicht, schreibt Spiegel Online. Gerade bei Berichten aus Krisenregionen und restriktiven Regimes sei die Überprüfung der Echtheit der Person oder Information ein Problem. Bei Blogs sei es besonders schwierig, herauszufinden, ob sich die Person tatsächlich vor Ort befinde oder nicht. Eigentlich habe man fast nur die Möglichkeit, zu überprüfen, ob die Information plausibel sei. Ausserdem könne man den elektronischen Kontakt suchen – mehr bleibe nicht. In einem repressiven Staat wie Syrien, wo unabhängige Journalisten nicht vor Ort recherchieren können, sei die Überprüfung der Quellen nahezu unmöglich.

Im Netz werden derweil Theorien um Arrafs Identität diskutiert. Einige vertreten die These, Arrafs Freundin Sandra Bagaria sei in Wirklichkeit Amina Arraf und das «Gay Girl in Damascus» eine Erfindung, so die «Washington Post». Syrische Aktivisten seien aber – obwohl sie sie noch nie getroffen haben – mehrheitlich überzeugt, dass Arraf existiere und verhaftet worden sei. «Mein Gefühl sagt mir, dass es die Frau gibt und dass sie ihr Leben riskiert. Aber sie kann nicht unter ihrem richtigen Namen oder mit ihrer richtigen Identität schreiben. Ich kenne viele Aktivisten und niemand enthüllt seine wahre Identität», zitiert die Zeitung einen prominenten Aktivisten in Beirut.

Existiert Amina Arraf wirklich? Vielleicht sitzt sie zurzeit tatsächlich wie 10 000 andere Regimegegner in einem syrischen Gefängnis. Vielleicht gibt es sie nicht. Eigentlich spiele das aber keine Rolle, meint «Spiegel Online», denn Revolutionen brauchen Identifikationsfiguren. In den Gefängnissen sässen tausende namenlose Menschen, die keine internationale Lobby haben. Man könne Amina Arraf daher als Symbol des syrischen Widerstands verstehen – und zwar unabhängig davon, ob es sie wirklich gibt, ob sie die sei, die sie vorgebe zu sein oder ob sie jemand anderes sei. International beachtete Facebook- und Web-Petitionsseiten, welche die Freilassung syrischer Oppositioneller fordern, gebe es nämlich erst seit Arrafs Verhaftung.

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