FlüchtlingspolitikSchengen soll teils ausser Kraft gesetzt werden
Nach dem Streit über den Umgang mit Flüchtlingen aus Nordafrika ziehen Frankreich und Italien nun an einem Strang: Die beiden Länder wollen zumindest vorübergehend in Europa wieder Grenzkontrollen ermöglichen.

Nicolas Sarkozy und Silvio Berlusconi glauben, den richtigen Weg in der Flüchtlingsfrage zu kennen.
Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi und Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy forderten am Dienstag nach einem Krisentreffen in Rom Änderungen am Schengen-Abkommen. Dieses garantiert 400 Millionen Einwohnern in 26 Ländern Europas Reisefreiheit ohne Passkontrollen.
«Wir wollen, dass der Schengen-Vertrag weiterlebt. Doch damit er weiterleben kann, muss er reformiert werden», erklärte Sarkozy am Ende des italienisch-französischen Gipfeltreffens. Zuvor war ein gemeinsames Schreiben Sarkozys und Berlusconis an die EU-Kommission veröffentlicht worden.
Darin fordern sie die Möglichkeit, wieder Kontrollen an den Grenzen der Schengen-Staaten einzuführen, und zwar «im Fall aussergewöhnlicher Schwierigkeiten bei der Kontrolle der gemeinsamen Aussengrenzen». Der «Druck» auf die gemeinsamen Aussengrenzen habe Folgen für alle Mitgliedsstaaten, warnen Berlusconi und Sarkozy.
Entscheidungen am EU-Gipfel gefordert
Auf dem EU-Gipfel im Juni müssten «konkrete Entscheidungen als Antwort auf die aktuellen Schwierigkeiten» in die Wege geleitet werden, schreiben sie weiter. Dazu gehöre insbesondere, dass die Europäische Union mit den Staaten südlich des Mittelmeers zusammenarbeite und die EU-Staaten wie Italien und Malta finanziell stärker unterstütze, in denen besonders viele Flüchtlinge ankommen.
Italien und Frankreich verlangen zudem eine Stärkung der EU- Grenzschutztruppe Frontex. Weiter sprechen sich die beiden Länder für ein gemeinsames EU-Asylverfahren aus. Nach den bisherigen Regeln ist das Land für die Versorgung und einen möglichen Asylantrag verantwortlich, in dem ein Flüchtling die EU erreicht.
EU-Kommission wenig kompromissbereit
Die EU-Kommission zeigte sich wenig begeistert über die Vorschläge: Die Idee, das Schengen-Abkommen zur Reisefreiheit in Europa vorübergehend auszusetzen, sei vollkommen ausgeschlossen.
«Das ist keine Option», sagte ein Sprecher der EU-Behörde in Brüssel. «Die Schengen-Regeln sind Teil der europäischen Verträge und diese kann man nicht ruhen lassen - sonst muss man die EU verlassen.» Beide Länder würden dies wohl auch nicht beabsichtigen, fügte er hinzu.
Es gebe bereits Ausnahmeregelungen, nach denen zeitweilig die Kontrollen an den nationalen Grenzen wieder aufgenommen werden können, erklärte der Sprecher. Das sei etwa möglich, wenn ein Land an der Schengen-Aussengrenze seinen Pflichten zu deren Absicherung nicht nachkomme. Die Voraussetzungen für einen solchen Schritt sollen dem Sprecher zufolge nun «präzisiert» werden.
Streit um 26 000 Flüchtlinge
Auslöser für die italienisch-französische Forderung sind nun die politischen Umwälzungen in der südlichen Nachbarschaft von EU und Schengen-Gemeinschaft. Seit Beginn der Revolutionen in Nordafrika erreichten rund 26'000 Flüchtlinge die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa, die meisten von ihnen Tunesier.
Zwischen Italien und Frankreich kam es zum Streit, als die italienischen Behörden den Tunesiern Visa ausstellten, mit denen sie in andere Schengen-Länder weiterreisen dürfen. Viele der französischsprachigen Tunesier machten sich auf den Weg nach Frankreich. Die Regierung in Paris reagierte, indem sie einen Grenzübergang zu Italien schloss - was wiederum in Rom Verärgerung hervorrief.
Beim italienisch-französischen Gipfel in Rom ging es am Dienstag auch um Wirtschaftsfragen, die Eskalation der Konflikts in Syrien und den Militäreinsatz in Libyen. Im Zentrum stand weiter der Versuch des französischen Konzerns Lactalis, den italienischen Milchriesen Parmalat zu übernehmen. (sda)