Obama legt Guantánamo-Verfahren auf Eis

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MarschhaltObama legt Guantánamo-Verfahren auf Eis

Barack Obama hat eine Aussetzung aller Terrorismus-Verfahren im umstrittenen Gefangenenlager Guantánamo Bay auf Kuba angeordnet. Entsprechende Dokumente wurden in dem Lager verteilt. Demnach soll die Verfügung für 120 Tage gelten.

In einer seiner ersten Amtshandlungen nach seiner Vereidigung am Dienstag wies er die Ankläger aus dem Pentagon an, bei den zuständigen Militär-Sondergerichten eine vorläufige Aussetzung für 120 Tage zu beantragen. Dies berichteten US-Medien in der Nacht zum Mittwoch.

In diesen vier Monaten soll demnach das derzeitige Prozess-System gegen mutmassliche Terroristen im umstrittenen Gefangenenlager Guantánamo generell und in Einzelfällen geprüft werden.

Von der für Mittwoch erwarteten Entscheidung der zuständigen Richter über den Antrag könnte auch ein anhängiges Verfahren gegen fünf mutmassliche Hintermänner der Anschläge vom 11. September betroffen sein. Ein Prozess gegen sie war bisher für dieses Jahr geplant.

Im Wahlkampf versprochen

Mit seiner Anweisung leitete Obama die Einlösung eines Wahlkampfversprechens ein, dem zufolge er das international umstrittene Lager auf dem US-Stützpunkt auf Kuba rasch schliessen will.

Verteidigungsminister Robert Gates, der bereits unter George W. Bush Verteidigungsminister war und unter Obama im Amt bleibt, hatte bereits vor Wochen mit der Prüfung der dazu nötigen Schritte begonnen.

Über 220 Häftlinge ohne Anklage

Zurzeit befinden sich noch etwa 245 Häftlinge in Guantánamo, darunter rund 20, die inzwischen als Kriegsverbrecher vor sogenannten Militärkommissionen angeklagt sind.

Dazu gehören die fünf mutmasslichen Hintermänner der Anschläge vom 11. September, allen voran der als Hauptdrahtzieher verdächtigte Chalid Scheich Mohammed.

Der «Washington Post» zufolge legte die Anklage bereits am Dienstag während einer Anhörung zur Vorbereitung auf den Prozess gegen die fünf Beschuldigten den Antrag auf Aussetzung der Prozeduren bis zum 20. Mai vor.

Spektakulärer Fall

Obama stand wegen eines unmittelbar bevorstehenden Prozesses gegen den Kanadier Omar Khadr unter besonderem Zeitdruck. Sein Fall gilt als besonders spektakulär: Khadr war im Alter von erst 15 Jahren in Afghanistan gefangen genommen worden und soll einen US- Soldaten getötet haben.

Der Verteidigung zufolge wurde er während der Verhöre schwer misshandelt und zu Falschaussagen gezwungen. Erst vor kurzem war auch von offizieller US-Seite erstmals Folter eines Gefangenen zugegeben worden.

Das Lager in Guantánamo besteht seit sieben Jahren. Es war nach den Anschlägen vom 11. September 2001 eingerichtet worden und ist seitdem international immer wieder als ein Schandfleck kritisiert worden.

Als «unrechtmässige Kämpfer» eingestufte Terrorverdächtige werden dort zum Teil schon seit Anfang 2002 ohne Anklage oder Prozess festgehalten.

Für die etwaige Aburteilung wurden unter der Regierung von Obamas Vorgänger George W. Bush sogenannte Militärkommissionen geschaffen. In Verfahren vor diesen Sondergerichten haben Angeklagte deutlich weniger Rechte als in Prozessen vor Zivil- oder normalen Militärgerichten.

Letzte Regelungen Bushs

Während der Reigen der Festbälle in Washington noch andauerte, liess Obama am Dienstag (Ortszeit) nach Angaben des Präsidialamts vorsorglich alle noch nicht wirksamen Verwaltungsakte der Vorgängerregierung stoppen. Diese Überprüfung ist ein Routinevorgang, den die jeweils neue Regierung vornimmt.

Amnesty International: Entscheid geht in die richtige Richtung

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International begrüsst Barack Obamas Entscheidung, die Guantánamo-Verfahren auf Eis zu legen.

Damit habe der US-Präsident allerdings erst einen ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht. Als nächstes müssten die völkerrechtswidrigen Verfahren definitiv eingestellt werden, fordert Amnesty International (ai) in einem Communiqué vom Mittwoch.

Die von Obama angeordnete viermonatige Aussetzung der Verfahren erlaube immerhin zu klären, was mit den Menschen geschehen solle, die noch im US-Gefangenenlager auf Kuba sitzen, sagte Manon Schick, Sprecherin der Schweizer ai-Sektion, auf Anfrage. Den meisten Festgehaltenen ist die Rückkehr in ihr Heimatland nicht möglich.

Für die Zukunft dieser Menschen gibt es laut ai eine einfache Lösung, die aber vom guten Willen anderer Länder abhänge: Gefangene, die von den USA freigelassen werden, sollen Aufnahme in Drittländern finden. Die übrigen Häftlinge sollen auf US-Boden übersetzt und dort juristisch beurteilt werden.

Die USA verhandelten mit mehreren Ländern - darunter die Schweiz - über die Aufnahme von Guantánamo-Gefangenen, rief Schick in Erinnerung. Der Bundesrat hat am Mittwoch bereits signalisiert, die Aufnahme entlassener Guantánamo-Häftlinge zu prüfen. Andere Länder haben sich in ähnlichem Sinn geäussert, so Grossbritannien, Deutschland, Frankreich und Portugal.

EU-Kommission begrüsst Aussetzung

Die EU-Kommission hat die Aussetzung der Verfahren gegen Guantanamo-Häftlinge durch die neue US-Regierung begrüsst. «Ich freue mich sehr darüber, dass eine der ersten Taten von Präsident Obama darin besteht, dieses Kapitel zu schliessen», erklärte EU-Justizkommissar Jacques Barrot am Mittwoch in einer Pressemitteilung. Die Guantanamo-Häftlinge hätten Anspruch auf «ein faires Verfahren». Bislang wurden sie vor ein Militärtribunal gestellt.

Selbstverständlich müsse «der Kampf gegen den Terrorismus eine Priorität der Vereinigten Staaten wie auch Europas bleiben», erklärte Barrot. «Wir müssen in diesem Kampf vereint sein, aber dies unter Wahrung der Menschenrechte.»

Europarat ruft zur Aufnahme von Guantánamo-Häftlingen auf

Strassburg Der Europarat hat seine Mitgliedsländer aufgefordert, Guantánamo-Häftlinge aufzunehmen, gegen die keine Anklagen vorliegen. «Wir werden unser Bestmöglichstes tun, damit Mitgliedsländer des Europarats unschuldige Häftlinge aufnehmen, die nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, weil sie sonst ihr Leben riskieren», erklärte Lluís Maria de Puig, Präsident der Parlamentarischen Versammlung, am Mittwoch in Strassburg.

Er begrüsse den Entschluss des neuen US-Präsidenten zur Auflösung des Häftlingslagers in Guantánamo auf Kuba und sehe darin den Willen Amerikas, zu seiner traditionellen Rolle als Träger höchster Standards internationalen Rechts zurückzukehren. Guantánamo sei schon immer eine Absurdität gewesen.

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