Lawine verschüttet Zug«Wir stürzten 70 Meter den Hang hinunter»
Eine Lawine donnerte gestern am Oberalp-Pass auf einen fahrenden Zug und riss die Wagen in die Tiefe. Ein Augenzeuge schildert die dramatischen Momente.
Es schneit wie verrückt in Andermatt, als sich Peter Zumtobel* am Montag zur ersten Schneeschuhwanderung der Saison aufmacht. «An den Steilhängen ist es schon am Vormittag zu spontanen Lawinenabgängen gekommen», erzählt Zumtobel. Wegen des starken Schneefalls kehrt er zum Bahnhof Andermatt zurück. Er setzte sich in den Regionalzug der Matterhorn-Gotthard-Bahn (MGB) nach Disentis, welcher schliesslich um 13.40 Uhr mit über einer Stunde Verspätung abfährt. «Wegen der schlechten Wetterverhältnisse ist dies der letzte Zug für heute», informierte ein Betriebsleiter die neun Passagiere.
Lawine reisst Wagen von der Lok weg
Zumtobel hat wegen des vielen Neuschnees ein flaues Gefühl in der Magengegend, er behält die Schneeschuhe an. Der Zug kämpft sich den 2044 Meter hohen Pass hoch und erreicht ein Flachstück. Dann geschieht das Unfassbare: «Zuerst hörte ich nur ein schabendes, kratzendes Geräusch. Dann begann der ganze Zug zu poltern und vibrieren und kippte schliesslich um», schildert Zumtobel den Moment, als eine rund 30 Meter breite Lawine den fahrenden Zug rammt. Die Wucht des Aufpralls reisst die drei Wagen von der schweren Lok weg.
Das Schneebrett drückt die Wagen von den Schienen. Dann rutscht die Komposition den Hang hinunter. «Ich hatte einen Schock und geriet in Panik. Wir wussten ja nicht, wie weit es dort runtergeht und ob eine Felswand kommt.» Nach einer 70 Meter langen Rutschpartie kommt der Zug auf einem Flachstück zum Stillstand. «Der Wagen stand quer. Die Fenster waren voller Schnee, man hat überhaupt nichts mehr gesehen.»
Die Angst vor dem nächsten Schneebrett
Der Sturz war zwar nicht ganze 70 Meter tief, wie eine nachträgliche Messung durch die Bahnverantwortlichen ergeben hat, sondern nur 26 Meter. Der Schock sass aber tief. Die eingeschlossenen Passagiere können den Wagen schliesslich durch die abgerissene Verbindungstüre verlassen. Die neun Passagiere und das Zugpersonal versammeln sich an der Unglücksstelle. «Ein Mann hatte starke Schmerzen im Oberschenkel und konnte kaum mehr laufen. Ein anderer Herr hatte eine Platzwunde am Kopf.» Mit vereinten Kräften kämpfen sich die Gestrandeten den Hang hinauf zum Bahntrassee. «Ich hatte Angst, dass uns eine weitere Lawine treffen könnte», erzählt Zumtobel. Ein Blick in den Steilhang gibt ihm recht. Die Lawine ist rund 200 Meter oberhalb des Bahntrassees abgegangen, gleich unterhalb der Lawinenverbauungen. «Der Lokführer hat die Lawine gesehen, konnte aber nicht mehr rechtzeitig bremsen», so der Augenzeuge.
Nach rund zehn bangen Minuten trifft schliesslich eine Bahn-Schneeschleuder ein und fährt die verängstigen Passagiere zurück nach Andermatt. «Wir sind haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschrammt. Das gibt mir zu denken», resümiert Zumtobel.
In Andermatt wartete ein Care-Team auf die Passagiere. «Sie führten uns in einen Sitzungsraum und gaben uns kalte Getränke in Petflaschen. Da hätten wir schon heissen Tee und Schnaps erwartet», schmunzelt Zumtobel.
*Name geändert
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