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KindesrückentführungDie guten Entführer

Sie brechen in Häuser ein, betäuben und entführen Kinder – alles mit dem Segen des obhutsberechtigten Elternteils. Die Rückentführer sind bei Kindesentführungen ins Ausland oft die letzte Lösung.

Amir Mustedanagic
von
Amir Mustedanagic
Betäubt, entführt und trotzdem in Sicherheit: Bei Kindsentführungen ins Ausland bleibt verzweifelten Eltern manchmal nur die Rückentführung ihres Kindes.

Betäubt, entführt und trotzdem in Sicherheit: Bei Kindsentführungen ins Ausland bleibt verzweifelten Eltern manchmal nur die Rückentführung ihres Kindes.

Wenn die Kinder aufwachen, liegen sie nicht mehr in ihrem Bett in Tunesien. Sie sind längst an Bord eines Schnellboots auf der Flucht aus dem Land. Es ist laut. Das Schiff hebt auf den Wellen ab, knallt wieder auf das Wasser. Die Kinder haben Angst. Um sie herum stehen ein Dutzend unbekannte Männer. Sie sind in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ins Haus gestiegen, haben die schlafenden Bewohner mit Narkosegas betäubt und die Kinder entführt – zurück entführt. Der einzige Trost in diesem Moment: das Lieblingsspielzeug von Zuhause im Arm und die Stimme der Mutter am Telefon.

«Rückentführungen laufen in 80 Prozent der Fälle nach diesem Schema und gewaltlos ab», sagt der Mann, der im Café am Flughafen Zürich sitzt. 317 Mal hat sein Unternehmen im vergangenen Jahr ein entführtes Kind aufgespürt und zum obhutsberechtigten Elternteil zurückgebracht. Er ist der Verantwortliche für Europa. Ein paar Stunden hat er Zeit, dann muss der Mann wieder los – Kinder entführen. Alleine elf Schweizer Jungs und Mädchen warten darauf, in die Heimat gebracht zu werden.

Unauffälligkeit ist oberstes Gebot

Während er an seinem Milchkaffee nippt, sieht er aus wie der Nachbar von nebenan. Er ist weder ein Berg von einem Mann, noch taucht er im James-Bond-Outfit auf. Unauffälligkeit ist das oberste Gebot für einen Rückentführer. Die Regeln für das Interview sind deshalb klar: Keine Fotos, keine richtigen Namen und auch sonst nichts, was auf die Identität von - nennen wir ihn Mark - hinweisen würde.

Wer Marks amerikanischen Arbeitgeber anheuert, ist verzweifelt. Für diese Person gibt es keine andere Lösung mehr, als das eigene Kind mit Narkosegas betäuben und entführen zu lassen und es auf eine ungewisse Reise zu schicken. Die Auftraggeber sind in 90 Prozent der Rückentführungen Mütter: Sie haben zwar das Obhutsrecht für das Kind, aber ihr Ex-Mann hat die gemeinsamen Kinder längst in ein arabisches oder lateinamerikanisches Land entführt. Die internationalen Abkommen zur Kinderrückführung sind nichts wert. Der Arm der Justiz erreicht die Entführer deshalb nicht – im Unterschied zu den Rückentführern.

Rückentführer haben nur eine Chance

«Viele stellen sich die Rückentführung als James-Bond-Aktion vor», sagt Mark, «das ist aber falsch.» Eine Rückentführung bedeutet für ihn vor allem viel Vorbereitung. «Wir sammeln als Erstes Informationen über die Kinder sowie den Vater und machen eine Risikoanalyse.» Und wenn Mark «Informationen sammeln» sagt, meint er: «Wir müssen alles wissen.» In welches Land ist das Kind entführt worden? Wo befindet es sich dort? Welche Kontakte hat der Entführer vor Ort? Wer unterstützt ihn hier? Handy- und Computer-Daten werden ausgewertet, Kontakte und Post kontrolliert und manchmal auch Helfer beobachtet. Hinzu kommen Observierungen im Zielland.

Je nach Fall werden der Entführer und sein Umfeld Wochen lang beobachtet. Das Observationsteam von zwei bis drei Leuten macht Pläne vom Haus, der Umgebung und der Stadt. Sie versuchen, die Routinen der Bewohner und der Familie herauszufinden. Wer wohnt alles im Haus? Wann gehen sie wohin? Welches Auto fahren sie? Anhand der Beobachtung wird der Plan für die Rückentführung erstellt. Selbst die Zeitspannen der Ampelsignale, Schlaglöcher auf dem Fluchtweg, Lieblingsorte der Polizei für Verkehrskontrollen oder regelmässig verstopfte Strassen werden vom Team festgehalten. Jedes Detail zählt: «Einerseits weil man nur eine Chance für die Rückentführung hat, andererseits weil niemand gerne im Gefängnis oder am Galgen endet.» Was Mark und sein Team tun, ist im Entführungsland absolut illegal. In Iran, Irak oder auch Jemen steht die Todesstrafe bereits beim Versuch einer Rückentführung.

Regierungen liefern Pässe mit falschen Identitäten

Nach der Rückkehr in den Schengen-Raum oder in die Schweiz hat Mark nichts zu befürchten: Rückentführer machen hier nichts Illegales, weil sie nur Aufträge annehmen, bei denen das Obhutsrecht gerichtlich geregelt ist. Kommt Mark mit einem entführten Kind in Europa an, hat er alle nötigen Papiere. «Die Behörden interessieren sich nicht dafür, wie das Kind zu mir kam. Ihr Interesse gilt nur den Papieren und der Tatsache, dass ich das Kind zur Mutter bringe.» Internationale Gewässer oder die Grenzen europäischer Staaten bedeuten deshalb für das Team die Rettung, wenn sie etwa mit dem Schnellboot von Tunesien nach Sizilien unterwegs sind.

Die Rückentführer geniessen viel Rückhalt, weil die Firmen in Robin-Hood-Manier das Gesetz brechen, um «Gutes» zu tun. In den USA haben Rückentführungen sich zu einem Geschäftszweig entwickelt. Hauptsächlich finanzieren sich die Firmen allerdings über Spenden von Personen und Unternehmen, die mit der Sache sympathisieren. Hand bieten auch Regierungen, sagt Mark. «Wir brauchen bei jedem Einsatz einen neuen Pass.» Denn die Rückentführer reisen zwar offiziell ein und erhalten einen Stempel im Zielland, wegen der Flucht aber keinen Ausreisestempel. Mit der Zeit wird ein Pass deshalb auffällig und damit unbrauchbar. Ersatz kauft Mark nicht auf dem Schwarzmarkt, sondern erhält ihn von den offiziellen Stellen – samt falscher Identität. «Die Länder können offiziell nichts tun, aber sie wollen auch ihre Staatsangehörigen nicht hängen lassen.»

«Ich bin kein Held»

Das Wohl der Kinder ist nicht nur den Staaten wichtig, sondern auch den Rückentführern. Sie wollen vor dem Einsatz jedes Detail über den Gesundheitszustand der Zielpersonen wissen: Hat das Kind Allergien, Asthma oder andere Gebrechen? Ist es kräftig genug für die belastende Fahrt auf dem Boot? Übersteht es die Narkose? «Ist ein Kind zu jung oder zu schwach, übernehmen wir den Auftrag nicht», sagt Mark. Zur Sicherheit begleitet den Einsatztrupp trotzdem immer ein Kinderarzt. Die Kinder zeigen sich manchmal aber auch als Komplizen ihrer Rückentführer: Sie öffnen ihnen die Türe oder lassen ein Fenster für das Team offen. «Die Kinder sind ja in einem fremden Land, ausserhalb ihres gewohnten Umfeldes, verstehen die Sprache nicht», sagt Mark, «die wollen auch weg.»

Obwohl er Kinder in die Arme der glücklichen Eltern zurückbringt, fühlt sich Mark nicht als Held. «Für mich ist es ein Geschäft, und die Kinder sind meine Ware.» So hart dies klingen mag, so berechnend ist es: Die Rückentführer halten ihre Gefühle bewusst von sich fern. «Emotionen können zu Fehlern führen», sagt Mark, «zögern wir oder gehen die üblichen Risiken nicht ein, wird es gefährlich». In seinen 15 Jahren im Business hat sich noch nie jemand schwer verletzt - und «das soll auch so bleiben», sagt Mark zum Schluss. Ein letztes Lachen noch und der Rückentführer verschwindet in der Menschenmenge. Es warten weitere Kinder auf ihre Entführer – die guten Entführer.

Rückführung vs. Entführung

Kindesentführungen durch einen Elternteil kommen immer wieder vor. Um das Kind wieder in die Obhut des berechtigen Elternteils zu bringen, haben einige Länder internationale Abkommen wie das «Haager Abkommen» oder das «Europäische Übereinkommen zum Kindesentzug» ratifiziert. Der obhutsberechtigte Elternteil kann deshalb in diesen Ländern eine Kindesrückführung beantragen und sie wird von Amts wegen eingeleitet. Jedoch haben nur 30 Länder diese Abkommen unterschrieben. Flüchtet ein Elternteil beispielsweise nach Tunesien, Ägypten oder Marokko, kann auf offiziellem Wege nichts unternommen werden. In diesen Fällen bleibt die letzte Möglichkeit oft eine «illegale Kindesrückführung» – die sogenannte Kindesrückentführung.

«Rückentführung ist riskant»

Für den Internationalen Sozialdienst (SSI) ist eine Rückentführung nur in einer Ausnahmesituation gerechtfertigt. «Wir würden eine solche Massnahme nur gutheissen, wenn das Kind in Gefahr ist», sagt SSI-Direktor Rolf Widmer. Einerseits weil eine Rückentführung riskant und für das Kind einer Gegen-Entführung gleichkommt, anderseits weil das Problem dadurch nicht gelöst ist. «Das Kind kann dann zum anderen Elternteil keinen Kontakt mehr haben.» Ausserdem habe man keinen Gewähr, dass der Partner nicht wiederum eine Entführung macht.

Die SSI verzeichnete im vergangenen Jahr in der Schweiz rund 150 Kindesentführunen ins Ausland, rund die Hälfte führte in ein Land, welches das Haager Kinderschutzabkommen nicht ratifiziert hat. Das SISS setzt in diesen Fällen auf Mediation und eine einvernehmliche Lösung der Partner zum Wohl des Kindes, sagt Widmer. «Gerade in arabischen Ländern ist dies wegen der höheren Stellung des Vaters allerdings schwierig.» Damit der Kontakt zum Kind in einem solchen Fall nicht abbricht, muss sich die Mutter mit dem Kontakt in den Ferien begnügen oder ins Herkunftsland des Vaters umziehen. Will die Mutter das nicht, bleibt auch in solchen Fällen nur die Rückentführung.

15 000 Euro verlangt das US-Unternehmen durchschnittlich für die Rückenentführung. Kommen Helikopter oder Privatjets zum Einsatz steigen die Kosten schnell bis auf 80 000 bis 100 000 Euro. Das US-Unternehmen passt allerdings ihre Preise den finanziellen Möglichkeiten der Familie an - diese Möglichkeiten haben sie, sagt Mark, weil sie sich hauptsächlich über Spenden finanzieren. «In der Branche gibt es aber auch viele Abzocker, die sehr viel Geld von den verzweifelten Familien verlangen.»

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