«Piano-Man» gibt weiter Rätsel auf
Ärzte in Grossbritannien stehen vor einem Rätsel: Ihnen wurde ein unbekannter Mann gebracht, der kein Wort spricht, aber hervorragend Klavier spielt.
Gefunden wurde der Mann - tropfnass in einem schwarzen Anzug mit Krawatte - in der Küstenstadt Sheerness im Südosten Englands. Seit fast sieben Wochen bemühen sich die Behörden, seine Angehörigen zu finden, bislang ohne Erfolg.
«Ich kann mich ihm nicht auf einen Meter nähern, ohne dass er unruhig wird», sagte der Sozialarbeiter Michael Camp, der sich in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses in Dartford um den Unbekannten kümmert. «Aber am Klavier wird er lebendig.» Der Mann ist zwischen Mitte 20 und Mitte 30, gross und blond. «Irgendjemand muss ihn vermissen», erklärte Camp.
Die britische Presse brachte den Fall mit dem Oscar-gekrönten Film «Shine» über den Pianisten David Helfgott in Verbindung. Dieser erlitt während des Spielens einen Nervenzusammenbruch. Der unbekannte Mann scheint dagegen ein guter Amateurmusiker zu sein. Der Krankenhauspfarrer Steve Spencer sagte, der Mann spiele nicht so herausragend wie in der Presse beschrieben. Er beherrsche wenige Lieder und spiele sie immer wieder. «Ich habe etwas von John Lennon erkannt und einen Ausschnitt aus Tschaikowskis 'Schwanensee'», erklärte Spencer. «Wenn er spielt, ist er total konzentriert und wird ruhiger.»
Die Mitarbeiter des Krankenhauses entdeckten die musikalische Begabung des Unbekannten, nachdem sie ihm Papier und Bleistift gereicht hatten. Er zeichnete einen Flügel. Als sie ihn zu einem Klavier führten, begann er zu spielen und hörte zwei Stunden lang nicht mehr auf. «An der Art, wie er Klavier spielt, können wir erkennen, dass er gebildet und intelligent ist», erklärte Camp. Die Behörden veröffentlichten ein Foto des Mannes, dessen Haar offenbar gefärbt ist. Auch seine Zeichnungen wurden veröffentlicht.
Der Unbekannte war der Polizei aufgefallen, weil er völlig durchnässt durch die Strassen von Sheerness gelaufen war. Er schien äusserlich gesund, wurde aber wegen seines Verhaltens ins Krankenhaus gebracht, wie Camp mitteilte. «Er scheint ängstlich zu sein, aber wir wissen nicht warum», sagte der Sozialarbeiter weiter. «Er hat, soweit wir wissen, kein Verbrechen begangen.» Zunächst hatten die Behörden angenommen, der Mann habe an einer Trauerfeier teilgenommen. Nachforschungen ergaben dann aber, dass er auf keinem Friedhof gesehen wurde.
Dolmetscher aus Polen, Lettland und Litauen versuchten, mit dem Mann zu sprechen, um herauszufinden, ob er möglicherweise ein Asylbewerber ist. Niemand drang jedoch zu ihm durch. «Dieser Mann ist zweifellos extrem gestresst und deprimiert», sagte Camp. «Er fängt immer wieder an zu weinen. Vielleicht hat er ein Trauma erlitten.» (dapd)