SMS des Vaters«Ich bringe die Zwillinge nicht zurück»
Alessia und Livia bleiben verschwunden. Statt einer neuen Spur tauchen Zweifel an den bisherigen Hinweisen auf. Eine SMS erklärt immerhin den schnellen Alarm.
Noch immer fehlt jede Spur von Alessia und Livia. Die Polizei fahndet seit acht Tagen mit Hochdruck nach den sechsjährigen Zwillingsmädchen. Ihre Bilanz ist ernüchternd: Entgegen bisherigen Meldungen verliert sich die Fährte der Zwillinge nicht in Marseille, sondern bereits nach ihrer Abfahrt im waadtländischen St-Sulpice. Wie die Kantonspolizei Waadt in einer Medienmitteilung schreibt, haben sich die Hinweise aus Marseille in Luft aufgelöst.
«Die Anwesenheit der beiden Mädchen im Reisebüro in Marseille ist entgegen unseren bisherigen Berichten nicht gesichert», sagt Sprecher Jean-Christophe Sauterel. Das Fähr-Unternehmen «Méridionale de navigation» bestätigte den Ermittlern, dass der Vater drei Tickets gekauft habe, es sei aber nicht bestätigt, dass die Mädchen oder der Vater die Fähre überhaupt bestiegen hätten. «Das Ticket ist am Pier gescannt worden», sagt der stellvertretende Staatsanwalt von Marseille, Christophe Barret, gegenüber der Nachrichtenagentur SDA, «aber das genügt nicht, um sicher zu sein, dass der Vater und die Mädchen wirklich an Bord waren.»
Letzte SMS an Mutter
Der Polizei verrinnen damit die Hinweise aus Frankreich und auch aus Italien wie Wasser zwischen den Fingern. Im Prinzip beginnt sie bei null. Gemäss der aktuellen Medienmitteilung gibt es keine Belege mehr dafür, dass die Zwillinge die Schweiz überhaupt verlassen haben. Zum letzten Mal gesehen wurden Alessia und Livia am Sonntag, 30. Januar um 13 Uhr in St-Sulpice – und «seither nicht mehr», wie die Polizei explizit schreibt.
Wieso die Polizei so schnell die Fahndung auslöste, blieb bisher unklar. Nun scheint die Frage gelöst: Die Mutter hatte eine SMS von Matthias S. erhalten. «Ich bringe die Mädchen nicht mehr nach Hause zurück», soll der Vater darin geschrieben haben, sagt Roberto Mestichelli gegenüber «La Republicca». Der Rechtsanwalt ist gemäss dem Zeitungsbericht der Cousin der Mutter von Alessia und Livia. «Sie [die Mutter] hat nach dieser SMS gewusst, dass etwas nicht stimmt, und sofort Alarm geschlagen», so Mestichelli weiter. Doch was bedeutet die SMS? Wollte Matthias S. ursprünglich einfach mit den Mädchen nach Italien flüchten oder hat er geplant, sie verschwinden zu lassen? Die Frage bleibt offen. Dass der Vater nach Korsika gefahren sei mit den Mädchen, glaubt Mestichelli jedenfalls nicht. «Sie haben keine Bekannte auf der Insel», sagt Mestichelli. Es sei für ihn sehr mysteriös, «aber in diesem Fall ist vieles mysteriös», so der Cousin der Mutter.
Die Schweizer Polizei glaubt offenbar auch, dass die Mädchen noch immer in der Schweiz sein könnten: Sie hat die Suche nach den Zwillingen in St-Sulpice ausgeweitet. Beamte durchsuchten bisher dreimal die Häuser von Verwandten. Zudem wurde auch die Nachbarschaft durchkämmt und rund 80 Haushalte aufgesucht. Im Hafen von Morges und Vidy wurden weiter vier Boote des Arbeitgebers von Matthias S. «gründlich durchsucht», wie es in der Medienmitteilung heisst. Auch weitere Häfen in der Region wurden besucht. Am Montag kreiste zudem ein Helikopter über dem See. Die Polizei suchte auch alle Tankstellen zwischen St-Sulpice und Genf auf und befragte die Angestellten in der Hoffnung, dass der Vater oder die Zwillinge gesehen worden waren.
Vater hat Auto gestohlen
Matthias S. war mit dem Auto seiner Ehefrau unterwegs. Er hatte ihr den Audi gestohlen. Das Auto wurde zur Fahndung ausgeschrieben und die Polizei überprüfte auch allfällige Geschwindigkeitsübertretungen, um Rückschlüsse auf die Fluchtroute machen zu können - allerdings erfolglos. Die Beamten liessen auch im privaten Umfeld von Matthias S. keinen Stein auf dem anderen: Sein Mobiltelefon, seine Bankauszüge und auch sein Arbeitsplatz sind untersucht worden. Bisher ohne Erfolg, wie die Polizei schreibt.
Die Behörden geben die Zwillinge aber nicht auf: Allein in der Schweiz sind 40 Beamte mit dem Fall betraut. Die Polizei in Marseille hat ihn zu ihrem prioritären Fall erklärt und auch in Italien wird mit Hochdruck gesucht. Vor allem um Neapel, wo der Vater zuletzt lebend gesehen wurde und in Cerignola, wo er sich vor den Zug warf.
Chronologie
30. Januar - St-Sulpice: Matthias S. verschwindet mit den Zwillingen Richtung Marseille. Alessia und Livia werden zum letzten Mal gesehen.
30. Januar Annecy: S. telefoniert zum letzten Mal mit seiner Frau.
31. Januar Marseille: S. kauft drei Tickets für die Fähre nach Korsika.
Das Ticket wird am Hafen auch gescannt, ob der Vater mit Alessia und Livia um 18.35 Uhr auf die Fähre fährt, bleibt offen.
1. Februar Propriano: Die Fähre kommt um 6.30 Uhr an. Weder Vater noch die Zwillinge werden gesichtet.
2. Februar St-Sulpice: Die Mutter erhält eine Postkarte vom Vater. Aufgegeben wurde sie nach ersten Erkenntnissen am Montag in Toulon.
3. Februar Neapel/Cerignola: Matthias S. betritt um 13.20 Uhr eine Pizzeria. Er bestellt ein üppiges Mal, wirkt normal und hat grossen Appetit. Knapp 12 Stunden später wirft er sich in Cerignola bei Bari vor einen Zug.
Offene Fragen im Fall
Leben die Mädchen noch? Gesicherte Hinweise gibt es weder dafür, dass Alessia und Livia am Leben sind noch dafür, dass die Zwillinge tot sind. Die Mutter ist überzeugt, dass Matthias S. seinen Kindern nichts angetan hat. Er habe sie über alles geliebt, sind sich alle Verwandten und Bekannten einig. Zudem spricht das Testament von Matthias S. dafür, dass die Mädchen noch leben. Gemäss dem Schriftstück hinterlässt er ihnen den grössten Teil seines Besitzes. Angepasst hat er es drei Tage bevor er mit den Mädchen durchbrannte. Trotz dieser Hoffnungsschimmer sinkt mit jeder Stunde, die die Mädchen länger verschollen bleiben, die Chance auf einen glücklichen Ausgang für Alessia und Livia.
wo sind die Mädchen? Die Polizei hat die Suche in der Schweiz intensiviert. Durchsucht wurden Boote und der See in der Nähe des Wohnortes sowie zahlreiche Liegenschaften in St-Sulpice. Alessia und Livia wurden dort zuletzt lebend gesehen und nicht wie bisher von der Polizei kommuniziert in Marseille beim Ticket-Kauf für die Fähre nach Korsika.
Was hat es mit der Fähre auf sich? Matthias S. hat drei Tickets für die Fähre von Toulon nach Propriano auf Korsika gekauft. Die Fahrkarten wurden am Hafen gescannt, ob der Vater die Fähre bestiegen hat, ist ebenso unklar wie ob die Mädchen dabei waren. Gesicherte Hinweise gibt dazu keine, teilte die Polizei explizit mit. Dagegen sprechen würde, dass der Vater unter anderem in Genau gesehen worden ist. Die Fahrt nach Korsika und mit der Fähre weiter nach Genua würde viel länger dauern als die Fahrt mit dem Auto dorthin. Es gab nach den bisherigen Erkenntnissen keinen Grund für Matthias S., diesen Umweg zu machen.
Wo wurde der Vater zuletzt lebend gesehen? Der Vater ass nach einstimmigen Medienberichten bei Neapel zuletzt eine Pizza, das war knapp 12 Stunden vor seinem Selbstmord in Cerignola bei Bari. Was Matthias S. zwischen dem Kauf der Fähren-Tickets und dem Pizzaessen machte, ist unbekannt. Die italienische Polizei konzentriert sich deshalb mit ihrer Suche auf das Gebiet bei Neapel und auf Cerignola bisher ohne Erfolg. Es gibt weder Spuren auf Aufenthaltsorte von S. noch auf das Schicksal von Alessia und Livia.
wo ist das Geld? Im Raum steht die Idee, dass der Vater möglicherweise jemanden bezahlt hat, der auf die Kinder aufpasst. Allerdings hätte sich die Person angesichts des europaweiten Aufsehens inzwischen bei der Polizei melden müssen.