Das entführte Kind als «Yucca-Palme»
Das Gerücht kursiert ausgerechnet jetzt: In der Ikea-Filiale Spreitenbach habe eine Mutter ihr Kind aus den Augen verloren. Nach ausgelöstem Grossalarm sei es verstört in der Toilette gefunden worden.
Niemand weiss, wie die Geschichte ihren Anfang nahm. Deshalb hat auch niemand eine Ahnung, wie das Kind plötzlich verschwand – spurlos halt. Aber die Geschichte macht in diesen Tagen wieder die Runde, besonders in Spreitenbach. Erzählt wird sie von verängstigten Müttern, weitergegeben an verängstigte Mütter, die sie wiederum verängstigten Müttern erzählen. Die Geschichte, die sich im Möbelhaus zugetragen habe soll, geht so:
Verstörtes Kind auf der Toilette mit neuem Haarschnitt
In der Ikea in Spreitenbach wurde vor einigen Wochen Grossalarm ausgelöst, nachdem sich eine besorgte Mutter an den Kundendienst wendete. Ihr Kind sei entführt worden, erklärte die Mutter, worauf der Möbelhersteller sofort reagierte. Er verriegelte alle Eingänge und sperrte alle Ausgänge. Das Möbelhaus wurde auf den Kopf gestellt, die Räumlichkeiten durchsucht, nach dem Kind gefahndet. Nach einiger Zeit fand man das Kind. Es stand in der Toilette, mit einem neuen Haarschnitt und trug neue Kleider. Das Kind war verstört, aber es wurde gerettet – in letzter Sekunde, vor dem Kindsentführer, erzählt die verängstigte Mutter aus Spreitenbach anderen verängstigten Müttern in Spreitenbach, die es wiederum... Die Geschichte, die «aus zuverlässiger Quelle von dem Freund eines Freundes» vernommen wurde, verbreitet sich in Windeseile und hinterlässt weitere verängstigte Mütter und besorgte Väter.
«Entführungen» auch in Dietlikon
Deshalb beschäftigt die Gruselgeschichte mittlerweile nicht mehr nur Spreitenbach. Auch in Dietlikon erkundigen sich besorgte Eltern bei Sonja Blöchlinger, ob die Geschichte stimme, dass in der dortigen Ikea ein Kind entführt wurde und verstört auf der Toilette gefunden wurde, mit neuem Haarschnitt und neuen Kleidern. Blöchlinger, seit vier Jahren Pressesprecherin von Ikea Schweiz, hatte bisher noch nie einen Anruf von besorgten Eltern, die ihr diese Geschichte erzählten. Vor einer Woche erhielt sie den ersten, seither sind weitere eingegangen und nun sagt sie: «Wir werden das beobachten und allenfalls Massnahmen treffen.» Blöchlinger bleibt ruhig. Sie kennt die Geschichte – genauso wie ihre Ikea-Kollegen aus Deutschland. Die berichten von einer «Vielzahl von Berichten, dass angeblich Kinder in einem Ikea-Einrichtungshaus entführt werden sollten». Das Kind wurde gefunden – in der Toilette, mit neuem Haarschnitt und neuen Kleidern.
Gegenstand wissenschaftlicher Forschung
Niemand weiss, wer sich das ausgedacht hat. Nur eines ist klar: Sie ist mittlerweile Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung über «moderne Mythen». Dazu zählt auch «Die Spinne in der Yucca-Palme» aus dem gleichnamigen Buch des Göttinger Professors Rolf Wilhelm Brednich. Denn die Geschichte der entführten Ikea-Kinder ist zehn Jahre alt und taucht in unregelmässigen Abständen wie eine Welle auf. Bereits im Jahr 2000 sah sich Ikea gezwungen, die Geschichte zu dementieren. Damals reichte sie Strafanzeige gegen Unbekannt ein. Im Juli schwappte die Welle wieder über Deutschland. Ikea versandte eine Pressemitteilung. «Bei Ikea wurde kein einziges Kind entführt», klären die Verantwortlichen auf. Die Geschichte ist so nie passiert. Nicht in Spreitenbach, nicht in Deutschland. Aber ob das die besorgten Mütter beruhigt, die verängstigten Müttern erzählen…
Marius Egger, 20minuten.ch