JugendgewaltPrügelnde Mädchen auf dem Vormarsch
Sie beissen und kratzen, sie reissen sich an den Haaren. Und sie tun es immer öfter. Statistiken zeigen: Jugendgewalt ist immer häufiger auch Frauensache. Jetzt werden vermehrt Therapieplätze für prügelnde Mädchen angeboten.
Prügeln ist nicht länger Männersache. Immer öfter sind junge Frauen in gewalttätige Auseinandersetzungen involviert. Eine unlängst publizierte Studie des Inselspitals Bern zeigt: Von 88 Jugendlichen, die einen Fragebogen ausfüllten, waren 20 weiblich. Die Fragebögen wurden allen Jugendlichen verteilt, die nach gewalttätigen Auseinandersetzungen auf die Notaufnahme des Inselspitals kamen. «Das Resultat hat mich sehr überrascht», sagt einer der Autoren der Studie, der Notfallmediziner Aris Exadaktylos.
Die zunehmende Gewaltbereitschaft unter den jungen Frauen hat Allan Guggenbühl, Co-Autor der Studie, bereits zu spüren bekommen. «Vor drei Monaten habe ich auf Grund der steigenden Nachfrage auch Therapieplätze für Mädchen eingerichtet», sagt er gegenüber 20 Minuten Online. Der Jugendpsychologe führt bereits seit einigen Jahren Therapiegruppen für gewalttätige Jugendliche. Dort lernen junge Männer, mit ihren Aggressionen konstruktiv umzugehen, statt bei der geringsten Provokation sofort loszuprügeln. Das Programm hat er jetzt auch für Mädchen im Angebot. «Manche kommen auf Anordnung des Jugendgerichts zu uns. Andere melden sich freiwillig an, weil sie mit ihrer Gewalttätigkeit nicht mehr klarkommen», so Guggenbühl. Das Phänomen der prügelnden Mädchen sei zwar nicht neu, habe aber in der Tendenz eindeutig zugenommen.
Über die Jahre markant zugenommen
Ein Blick in die Polizeistatistik des Kantons Zürich stützt den Befund von Guggenbühl: Zwischen 1980 und 1990 finden sich pro Jahr maximal zehn Anzeigen wegen Gewaltdelikten, die von Täterinnen verübt wurden. 2006 sind es schon 66 Fälle. Kriminologe Denis Ribeaud, der an der Universität Zürich vor wenigen Monaten eine grossangelegte Studie zum Thema Jugendgewalt publiziert hat, präzisiert diesen Befund. «Die Polizeistatistik zeigt klar, dass der Anteil von Delikten gegen Leib und Leben, der durch junge Frauen verübt wurde, über die Jahre markant zugenommen hat.» 1980 waren es sieben Prozent aller Gewaltdelikte, die von Frauen verübt wurden. Im Jahr 2006 liegt dieser Wert laut Polizeistatistik bei zwölf Prozent. Für Ribeaud ist klar: Dieser Anstieg ist kein statistischer Zufall. Der Anteil gewaltbereiter junger Frauen hat zugenommen.
Guggenbühl hat die 20 Fragebögen, welche die jungen Frauen in der Notaufnahme des Inselspitals ausgefüllt haben, noch nicht abschliessend ausgewertet. Der Psychologe weiss aber aus Erfahrung: Die Mädchen zeigen eine ähnliche Gewaltbereitschaft wie die Knaben. Das heisst: Auch sie lassen sich verbal provozieren, auch sie ticken aus und üben Gewalt mit Händen und Füssen aus. Bei beiden befragten Gruppen sei es jedoch schwer, eine genaue Opfer- oder Täter-Zuordnung vorzunehmen, sagt Aris Exadaktylos: «Tendenziell sehen sich die jugendlichen Gewalttäter als Opfer. Aus ihrer Sicht haben sie sich bloss gegen eine verbale Provokation gewehrt.»
Die moderne Raufboldin gibt sich feminin
Die Frauen, die Allan Guggenbühl in seinen Gruppentherapien zu Gesicht bekommt, sind keine Mannsweiber mit kurzen Haaren und Damenbärten. «Es sind ausgesprochen feminine Typen, die sich pflegen und betont weiblich auftreten», so Guggenbühl gegenüber 20 Minuten Online. Jugendliche Gewalttäterinnen – im Unterschied zu den Tätern – kennen ihr Opfer jedoch häufig. «Es passiert selten, dass eine junge Frau eine völlig Unbekannte grundlos angreift», sagt Guggenbühl.
Kriminologe Ribeaud betont jedoch, dass der Anstieg von Gewalttäterinnen im jugendlichen Alter in der Statistik der Polizei auch noch andersweitig beeinflusst ist. «Die Anzeigehäufigkeit bei Gewalttaten hat generell zugenommen», so Ribeaud. Das erkläre einen Teil des steilen Anstiegs, sei aber nicht die alleinige Erklärung. Ausserdem sei wenig bekannt, dass auch die Polizei besser arbeite: «Die Aufklärungsquote bei Gewaltdelikten ist heute höher.»