Roma am Sihlquai«Die Frauen prostituieren sich vermehrt illegal»
Auf dem Sihlquai arbeiten nicht weniger Prostituierte aus Ungarn, sagt ein Wissenschaftler. Sie arbeiten vielmehr ohne Bewilligung. Der Sihlquai werde aber auch vermehrt gemieden – wegen der Gewalt.

«Nicht der Reichtum lockt Roma-Frauen auf den Strich, ihre miserable Lage drückt sie in die Prostitution»: Sascha Finger über die ungarischen Sex-Arbeiterinnen auf dem Sihlquai.
Der Strassenstrich von Zürich wird seit Jahren von Ungarinnen dominiert. Die meisten von ihnen sind Roma. Sie werden allerdings nicht von Menschenhändlern auf den Strich gezwungen, sondern von ihrer Familie, sagt Sascha Finger. Der Geograf hat sich ein halbes Jahr in Zürich und Ungarn mit mehr als 40 Frauen unterhalten. Mit 20 Minuten Online sprach er darüber, warum die Frauen gerade die Schweiz wählen, warum viele von ihnen Neu-Einsteigerinnen sind und warum die wenigsten zurück in die Schweiz wollen.
Herr Finger, Sie haben 40 Prostituierte aus Ungarn interviewt. Hat sich ein bestimmtes Profil bei den Frauen herauskristallisiert?
Sascha Finger: Die Geschichten der Frauen lassen sich nicht vereinheitlichen. Es gibt aber Elemente, die in allen Biografien wiederkehren. In Ungarn beispielsweise sind die Prostituierten mehrheitlich Roma. Sie sind in der Regel arm und ungebildet. In der Schweiz trifft man auch Ungarinnen an. Ich habe Frauen kennengelernt, die waren Verkäuferinnen. Sie haben eine Ausbildung gemacht, hatten einen festen Job.
Wieso gehen Frauen, die Mitten im Leben stehen in die Prostitution?
Der Schritt fällt ihnen schwer. In der Regel sind es wirtschaftliche Gründe, die sie dazu treiben. Es kommt meistens soweit, wenn sie in einer Lebenskrise stecken: Der Mann verlässt sie, ein Kind zu viel kommt zur Welt, sie verlieren den Job oder ähnliches. Gerade Nicht-Roma wurden in den vergangenen Jahren aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage in Ungarn in die Prostitution getrieben. Viele haben Kredite aufgenommen und konnten diese nicht abbezahlen. Die Hemmschwelle in die Prostitution einzusteigen, ist aber auch bei den Roma sehr hoch, wenn man sich ihre Wohnverhältnisse in Ungarn anschaut. Sie leben dort in Baracken ohne Strom, Wasser und teilweise ohne Fenster. Manche haben nicht einmal einen Ofen, sondern machen im Winter offene Feuer in den Baracken. Sie prostituieren sich also nicht für Luxus.
Das erstaunlichste Ergebnis Ihrer Befragung war, dass die Frauen nicht nur Opfer von Menschenhandel sind. Gerade die Roma-Frauen werden oft von der Familie auf den Strich geschickt und ernähren ganze Grossfamilien. Wie kann es soweit kommen?
Da muss man nach Ungarn schauen. Das Land tut reichlich wenig für die Integration der Roma. Sie fördern sie nicht, sie integrieren sie nicht. Selbst Gebildete erhalten keinen Job. Die Roma können sich also wenn überhaupt nur sehr schwer im System integrieren. Das andere ist die aktuelle rechtspopulistische Politik in Ungarn, die förmlich eine Hetzjagd auf die Roma veranstaltet. Wenn die Familie dann am Rand der Gesellschaft ist, nicht mal einen Tagelöhner-Job mehr kriegt, bleibt nur noch die Prostitution. Es ist nicht der Reichtum, der die Frauen lockt auf den Strich lockt, sondern die miserable Lage, die sie in die Prostitution drückt.
Von Aussen scheint es so, dass sich die Prostitution als Lösung etabliert. Ist das so?
In ländlichen Regionen ist das sicherlich nicht der Fall. Grundsätzlich ist die Sexualität aber ein Tabu-Thema gerade unter den Roma, welche in einem patriarchalischen System leben. Die Frauen stehen entsprechend teilweise dann auch innerhalb der Roma am Rand. In manchen Gegenden ist das Tabu aber durchbrochen und die Leute haben sich damit abgefunden, dass es nun mal der Lebenserwerb ist. In der Stadt gehört es beispielsweise irgendwie dazu und ist in gewissen Stadtteilen inzwischen einfach das tägliche Brot der Frauen.
Warum kommen die Frauen dann ausgerechnet in die Schweiz?
Es gibt mehrere Gründe für dieses Phänomen. Der eine ist die Stärke des Schweizer Franken. Viele Haushalte in Ungarn haben Fremdwährungskredite aufgenommen. Als die wirtschaftliche Lage sich veränderte, wollten sie in der stärksten Währung anschaffen und ihre Schulden möglichst rasch abzahlen. Meine persönliche Einschätzung ist, dass sie auch wegen dem Preis gekommen sind, den sie hier verlangen konnten. Die Preise für Sex waren in der Schweiz höher als im restlichen Ausland. Das typische Lockmittel ist jetzt allerdings weg, reich werden sie auch hier nicht mehr. Die Frauen sagen selbst, dass die Preise gesunken sind.
…nicht zuletzt wegen den Roma-Frauen, wie andere Prostituierte beklagen. Warum haben sie Dumping-Preise verlangt?
Ich habe während den Interviews nicht nach den Preisen gefragt. Ich kann also nur mutmassen. Ich denke, es war eine Folge der freien Marktwirtschaft: Es gab viele Frauen auf dem Sihlquai und damit viel Angebot, da sank der Preis. Vor ein paar Jahren waren die Mieten in Zürich für die Frauen auch nicht so hoch, da konnte sie Tiefenpreise verlangen und die Familie trotzdem unterstützen. Jetzt sind die Mieten in den Hotels und Motels aber so hoch, dass die Prostituierten nur noch für die Mieten arbeiten. Sie können entsprechend die Familien nicht unterstützen und bleiben teilweise über die legale Arbeitszeit in der Schweiz. Der Wohnraummangel an der Langstrasse hat viele Frauen auch in die Vororte vertrieben. Viele stiegen dann auf Pensionen in Baden und Brugg um und pendelten in die Stadt. Ich glaube, die Preise auf dem Strassenstrich könnten aufgrund der steigenden Mieten in Zukunft wieder steigen.
Hat die Zahl der ungarischen Prostituierten deshalb in der Vergangenheit auf dem Sihlquai abgenommen?
Ich denke, dass die Zahl der Frauen nicht abgenommen hat. Ich glaube nicht, dass die 56 Frauen – die sich gemäss Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons angemeldet haben – das Bild auf der Strasse repräsentieren. Die neue Prostitutionsverordnung führt dazu, dass die Frauen mehr illegal arbeiten. Sie haben es teilweise bereits zuvor in Kauf genommen, illegal zu arbeiten. Dass sie den Rechtsbruch in Kauf nehmen, hat mit Ungarn zu tun. Dort ist Prostitution zwar grundsätzlich legal, aber an den meisten Orten wird sie untersagt. Die Frauen prostituieren sich in der Folge auch an Orten, wo es verboten ist. Das Risiko in der Schweiz ist allerdings geringer als in Ungarn: In Ungarn müssen die Frauen hohe Bussen bezahlen und wandern zusätzlich für lange Zeit ins Gefängnis. Keine Ahnung wieso die ungarische Polizei die Frauen lieber verhaftet, als sie arbeiten zu lassen. Vielleicht schämen sie sich für die Prostituierten.
Die Ungarinnen haben Ihnen aber auch von Gewalt in der Schweiz erzählt und dass sie deshalb nicht in die Schweiz zurück wollen. Von wem kamen die Übergriffe?
Die befragten Prostituierten haben vor allem von Gewalt auf der Strasse berichtet – vornehmlich durch Freier. Ob das die Zuhälter auch machen, kann ich nur mutmassen. Sie werden aber sicher von Freiern schikaniert: Sie bezahlen nicht, verlangen Sex ohne Kondom. Sie werden aber auch geschlagen. Es wird häufig auch Diebstahl versucht. Die Frauen werden also beraubt oder irgendwo fernab abgesetzt, wo sie sich nicht zurechtfinden. Es gibt also viele Formen von Gewalt.
…sind die Frauen damit nicht auch in Ungarn konfrontiert?
Meinen Befragungen zufolge, sind die Freier in Ungarn anders. Zunehmend als störend wird auch die Präsenz der Polizei in der Schweiz empfunden, dass sorgt für Unwohlsein.
Die Polizei ist ja zum Schutz der Frauen vor Ort. Sie soll sie vor gewalttätigen Freiern schützen und auch vor Zuhältern.
Wenn man den Frauen mit Zuhälterei kommt, sind sie genervt. Sie kennen die Fragen nach Zuhältern. Das Problem ist, dass die Frauen es nicht als Zuhälterei betrachten, wenn ihr Bruder, Cousin oder Onkel sie auf den Strich schickt – man kann noch so auf sie einreden. Diese Tatsache macht es eigentlich komplizierter den Frauen zu helfen, als bei klassischem Menschenhandel.
Druck wird aber dennoch auf die Frauen ausgeübt?
Es ist definitiv jemand mit den Frauen in der Schweiz, der schaut, dass das Geld reinkommt. Ich habe während meiner Recherchen an der Langstrasse auch Männer ungarisch sprechen gehört. Es sind bestimmt also Männer im Spiel, die wir wohl als Zuhälter betrachten. In erster Linie ist der Druck auf die Frauen psychischer Natur. Die Frauen haben auch eigene Kinder, die sie versorgen müssen und vor allem auch wollen. Sie wollen ihre Kinder in die Schule schicken, welche sie nicht besuchen konnten. Unter diesen Umständen ist es leicht Druck auszuüben. Ich würde körperliche Gewalt aber nicht ausschliessen. Den Frauen macht indessen vor allem zu schaffen, dass sie die Verantwortung haben für die gesamte Familie. Das sind teilweise noch Mädchen, die für ihre gesamte Familie schauen müssen.
Gibt es einen Ansatz für eine Lösung des Problems?
Ungarn muss anfangen, seine Minderheiten anzuerkennen und zu integrieren. Es klingt einfach, aber ist natürlich in der ungarischen Gesellschaft sehr schwierig: Es fängt schon damit an, dass die Ungarn die Roma nicht als Ungarn ansehen. Der Ursprung kommt aus dieser Diskriminierung – die Roma sind resigniert. Es bleibt einfach so, dass Ungarn nichts für seine Roma macht. So wie viele andere Länder nichts für ihre Roma tun: Frankreich verweist sie des Landes, Italien ist nicht gut auf sie zu sprechen. Es gibt also keine Best-Practice. Zumindest hat es ja jetzt auch politische Wellen geschlagen. Die ungarische Regierung hat die Schweiz um einen Solidaritätsbeitrag gebeten, für die Reintegration der Frauen. Aber Ungarn kann nicht die Verantwortung abschieben, die Schweiz soll helfen, aber zuerst muss Ungarn etwas machen.
Was ist mit den Frauen, die in die Prostitution gerutscht sind. Können sie den Ausstieg schaffen?
Ich habe die Frauen in der Schweiz nach ihren Zukunftsperspektiven befragt: Alle wollen den Strich aufgeben. In Ungarn habe ich aber wiederum Frauen getroffen, die in der Schweiz waren und den Ausstieg nicht geschafft haben – auch nach dem Abbezahlen der Schulden. Es scheint so, dass der Ausstieg kaum möglich ist – gerade bei der aktuellen Wirtschaftslage.

Sascha Finger ist Geograf und arbeitet beim World Trade Institut der Uni Bern. Der 27-Jährige hat sechs Monate lang Sex-Arbeiterinnen in Ungarn und in Zürich befragt. Die Ergebnisse werden in seiner Dissertation «Mobilität von ungarischen Sexarbeiterinnen» veröffentlicht.