Pflegekinder: Hauptsache billig, Hauptsache weg
Nicht erst seit bekannt wurde, dass ein Pflegekind bei Prostituierten untergebracht wurde, ist Experten klar: Die Verordnung muss revidiert werden. Das führt aber nicht automatisch zu einer Verbesserung für die rund 13 000 Pflegekinder in der Schweiz.
Der Fall der fünfzehnjährigen Sonja, die von der Aargauer Gemeinde Reinach zweimal als Pflegekind bei Prostituierten untergebracht wurde und gestern von der «Rundschau» aufgezeigt wurde, hat gezeigt, dass es einigen Gemeinden, die für die Platzierung der Kinder zuständig sind, vor allem um eines zu gehen scheint: Hauptsache die Kinder sind untergebracht und die Lösung ist kostengünstig. Über die Qualität der Plätze machen sich offenbar längst nicht alle Verantwortlichen Gedanken.
«Kosten stehen tatsächlich im Vordergrund»
Dass es sich bei einigen Gemeinden um die Lösung «Hauptsache billig, Hauptsache weg» handelt, kann auch Philipp Oechsli nicht ganz von der Hand weisen. «Gerade die Kosten stehen tatsächlich bei einigen Gemeinden im Vordergrund», sagt der Geschäftsleiter der Pflegekinder-Aktion Schweiz gegenüber 20minuten.ch. Dadurch würden oft weder Pflegeplätze noch die Pflegeeltern eingängig geprüft oder in ihrer oft schwierigen Betreuungsaufgabe begleitet.
Rund 13 000 Pflegekinder in der Schweiz
Wie gross die Missstände bei Pflegekindern in der Schweiz tatsächlich sind, weiss niemand. Eine Statistik über Pflegeverhältnisse wird nicht geführt. Nach Schätzungen, die sich auf die letzte Volkszählung stützen, gibt es zirka 13 000 Pflegekinder. Die Hälfte, so schätzt Oechsli, ist bei Verwandten untergebracht. «Es könnte aber auch nur ein Drittel sein.» Die Zustände bei Verwandten schätzt Oechsli allerdings «nicht automatisch» als besser ein. «Vielleicht kennen die Kinder diese Verwandten gar nicht.» Fakt ist: Man weiss es schlicht nicht.
Revision der Verordnung wird geprüft
Das soll sich so schnell wie möglich ändern. Die Pflegekinderverordnung (PAVO), die seit 1977 in Kraft ist, soll revidiert werden. Die Kantone sollen vom Bund dazu verpflichtet werden, ihr Pflegekinderwesen zu koordinieren und zu professionalisieren (siehe Kontext).
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) wurde Anfang Jahr vom Bundesrat beauftragt, die Revision der PAVO zu prüfen. Ob sich nach einer allfälligen Revision die Situation tatsächlich verbessert, bleibt allerdings fraglich. Für die Umsetzung der Verordnung sind die Kantone verantwortlich. Dass diese wiederum die Pflegekinderbetreuung den Gemeinden delegieren, davor schützt auch eine Revision nicht. «Die Gefahr, dass die Gemeinden nach einer kostengünstigen Lösung suchen, besteht natürlich weiter», sagt Felix Schöbi vom Bundesamt für Justiz. Er ergänzt jedoch: «Eine Revision könnte einerseits vieles klarer regeln, andererseits einen Bewusstseinsprozess auslösen, wenn das Thema wieder einmal auf politischer Ebene diskutiert wird. Aber Illusionen darf man sich nicht machen: Entscheidend ist, was vor Ort passiert.» Bleibt zu hoffen, dass der Bewusstseinsprozess auch jene Gemeinden befällt, die immer noch die Lösung «Hauptsache billig – Hauptsache weg» bevorzugen.
Marius Egger, 20minuten.ch
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Die Forderungen
Die Pflegekinder-Aktion Schweiz will in der neuen Pflegekinderverordnung (PAVO) folgende Punkte verankert haben:
- Richtlinien zur Ausbildung und Begleitung von Pflegeeltern sowie geeignetes Fachpersonal bei der Vermittlung von Pflegekindern und der Aufsicht von Pflegeverhältnissen.
- Eine Bewilligungspflicht für Organisationen, die Pflegeplätze vermitteln.
- Ein Mitspracherecht für Kinder und Jugendliche in allen Verfahren, die sie betreffen, oder eine unabhängige Verfahrensvertretung.
- Eine Statistik über die Fremdbetreuung in Pflegefamilien und Heimen.
(meg)