Gerichtshof für Menschenrechte«Strassburg ist immer häufiger letzte Rettung»
Für viele Bürger in Europa ist Strassburg die letzte Hoffnung auf Gerechtigkeit. So steigt am Gerichtshof für Menschenrechte jährlich die Zahl von Beschwerden — und mit ihnen der Pendenzenberg. Eine Reform soll sicherstellen, dass weiterhin alle Bürger ihre Rechte einfordern können. Was geschehen muss, sagt Richter Mark Villiger im Interview mit 20 Minuten Online.

Über die Haftbedingungen in Russland muss der Gerichtshof für Menschenrechte immer wieder urteilen. Archivaufnahme von 2000.
Wer in Europa seine Menschenrechte einfordern will, braucht Geduld. Denn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist völlig überlastet: Der Berg von pendenten Beschwerden ist auf 120 000 Fälle angewachsen, die Verfahren können Jahre dauern. Der Strassburger Gerichtshof ist ein Opfer seines eigenen Erfolgs geworden. Eine Reform soll Entlastung bringen. Unter dem Präsidium der Schweiz findet deshalb am Donnerstag und Freitag in Interlaken eine Konferenz statt, an dem alle 47 Staaten der Menschenrechtskonvention vertreten sind. Der Schweizer Richter Mark Villiger, der in Strassburg den Liechtensteiner Sitz besetzt, fordert im Interview als dringlichste Massnahme ein Filtersystem.
Beim Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sind 120 000 Beschwerden hängig. Wie können Sie da noch Recht sprechen?
Mark Villiger: Nicht alle Fälle sind von gleicher Bedeutung. Der Gerichtshof unterscheidet zwischen Fällen, die von einem Einzelrichter, von 3, 7 oder 17 Richtern entschieden werden. Je nachdem verwendet der Gerichtshof mehr oder weniger Zeit für die einzelnen Fälle. Aber es ist tatsächlich so, dass die Richter an die Grenzen ihrer Möglichkeiten gelangt sind. Denn sie entscheiden nicht nur über Fälle, sondern müssen auch in Beschwerdesachen als Berichterstatter amtieren.
Es gab in den letzten gut zehn Jahren bereits zwei Reformen, die aber keinen Erfolg hatten. Wieso nicht?
Die früheren Reformen brachten alle substantielle Verbesserungen. Das Problem ist, dass die Zahl der neu eingereichten Beschwerden ständig zunimmt, im letzten Jahr um 15 Prozent. Zudem werden die Reformvorschläge über viele Jahre diskutiert. Wenn eine Reform endlich in Kraft tritt, ist sie bereits von der gestiegenen Zahl neu eingetroffener Beschwerden überholt.
Warum hat die Zahl der Klagen in den letzten gut zehn Jahren so stark zugenommen?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Ich sehe drei mögliche Gründe. Erstens wird die Rechtssprechung des Gerichtshofs immer bekannter. Zweitens erscheint Strassburg immer häufiger als letzte Rettung. Viele Beschwerdeführer ziehen einen Fall nach Strassburg weiter, nachdem sie ihn in letzter innerstaatlicher Instanz verloren haben. Und schliesslich wird drittens die europäische Gesellschaft mit ihren 47 Mitgliedstaaten immer komplexer und erzeugt immer neue Reibungsflächen zwischen Staat und Individuum. Dazu gehören auch Aspekte der Abwehr des Terrorismus, der Informationsgesellschaft und der Informatik.
Ist die Sensibilität für Menschenrechte grösser geworden?
Das weiss ich nicht. Aber die Bürger und Bürgerinnen sind sicher bereit, sich für ihre Rechte und Freiheiten einzusetzen.
Wie lange dauert es heutzutage, bis der Gerichtshof über eine Klage urteilt?
Das ist sehr unterschiedlich. Am einen Ende des Spektrums stehen klar unzulässige Fälle, über die der Einzelrichter entscheidet. Sie können innerhalb von wenigen Monaten abgewiesen werden. Am anderen Ende des Spektrums sind die komplexen Fälle, die zunächst von einer Kammer und danach von der Grossen Kammer behandelt werden. Sie können viele Jahre hängig sein. Auf jeden Fall dauert das Verfahren für einen grossen Teil der Fälle viel zu lange!
Können Sie wichtige Fälle beschleunigt behandeln?
Die Priorisierung von Beschwerden wird seit rund einem Jahr praktiziert. Bevorzugt behandelt werden besonders dringende Fälle wie gerügte unmenschliche Behandlung oder Folter, dringende Familienangelegenheiten oder Fälle, welche Jugendliche oder betagte Personen betreffen.
In den letzten zehn Jahren hat sich die Mitarbeiterzahl des EGMR auf rund 650 verdreifacht. Braucht es einfach mehr Geld für mehr Mitarbeiter?
Dem Gerichtshof wäre mit mehr Mitarbeitern sicher gedient. Allerdings stellt sich hier das gleiche Problem wie bei den Reformen: Es braucht eine gewisse Zeit, bis neue Mitarbeiter eingearbeitet sind und sich auch komplexeren Fällen zuwenden können. Bis dahin hat die Beschwerdezahl erneut zugenommen. Zudem benötigt die Einarbeitung erfahrene Mitarbeiter, die ihrerseits davon abgehalten werden, sich den komplexeren Fällen zu widmen.
Einige Experten wie der frühere EGMR-Präsident Luzius Wildhaber fordern, dass der Gerichtshof nur in ausgewählten Fällen Grundsatzurteile fällt. Ist das der richtige Weg?
Dieser Vorschlag wird unter Juristen diskutiert. Meine Meinung ist zwar keineswegs in Stein gemeisselt, aber es spricht doch einiges dagegen. Das Individualbeschwerderecht erlaubt es jeder Person, in Strassburg Beschwerde einzureichen. Dies stellt ein enorm wichtiges demokratisches Element dar, das dem Gerichtshof erst Legitimität verleiht. Zudem bedeutet das Individualbeschwerderecht auch, dass der Gerichtshof sehr gut über die aktuellen Entwicklungen in den verschiedenen Staaten Bescheid weiss. Er hört sozusagen das Gras wachsen, weil aus ganz Europa Beschwerden eingehen. Täglich treffen über 1000 Briefe beim Gerichtshof ein. Wenn der Gerichtshof nur noch Grundsatzurteile fällt, besteht die Gefahr eines Elfenbein-Turms.
Eine Möglichkeit ist, dass Reformen nur für einige Länder gelten und so ein Gerichtshof mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten entsteht. Wäre das eine gute Möglichkeit?
Der Gerichtshof behandelt grundsätzlich alle Staaten gleich. Ob gross oder klein: die Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt für alle Staaten gleichermassen. Daher besteht kein Raum für unterschiedliche Geschwindigkeiten. In Bezug auf die Priorisierung gibt es jedoch unterschiedliche Geschwindigkeiten.
Gibt es überhaupt noch die Möglichkeit, den Pendenzenberg von 120 000 Verfahren jemals abzubauen?
Ja, eine Filterinstanz würde hier Abhilfe schaffen. Diese würde die zulässigen von den unzulässigen Fällen trennen. Nur die zulässigen Fälle würde die Vorinstanz dem Gerichtshof überweisen. Dieser Vorschlag wird sicher an der Konferenz in Interlaken diskutiert. Eventuell könnten die Richter der Filterinstanz aber wieder das Budget des Gerichtshofs belasten.
Die Interlaken-Konferenz soll weitere Reformen bringen. Was erachten Sie als dringlich?
Wichtig ist in erster Linie die Einführung des erwähnten Filtersystems durch eine Vorinstanz. Zudem sollten die Staaten selbst dafür sorgen, dass die Beschwerdeflut in Strassburg abschwillt.
Wie können sie das tun?
Indem sie Gerichte einführen, welche auf innerstaatlicher Ebene bereits gerügte Menschenrechtsverletzungen überprüfen. In Liechtenstein und in der Schweiz ist es schon heute so, dass alle gerichtlichen Instanzen Rügen wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention überprüfen können.
Wird die Interlaken-Konferenz wirkliche, weitreichende Reformen bringen?
Eine Konferenz kann nicht in zwei Tagen alle Probleme lösen. Vielmehr sollen zum Teil weitreichende Reformen angestossen werden, die dann nach weiterer Prüfung und Beratung in zwei bis drei Jahren zum Abschluss kommen werden.
Blockieren sich die Europarat-Länder bei Reformen gegenseitig?
Von einer Blockade kann keine Rede sein. Im Gegenteil, zum ersten Mal treffen sich in Interlaken Vertreter aller 47 Mitgliedstaaten, um sich ausschliesslich dem Gerichtshof zu widmen. Über 30 Staaten werden mit einem Minister vertreten sein, darunter auch die Schweiz und Liechtenstein. Die Staaten unterstützen den Gerichtshof nicht nur, sondern sehen für ihn auch längerfristig eine wichtige Rolle vor.
Rund 40 Prozent der Klagen kommen aus Russland und der Türkei. Haben diese Länger möglicherweise gar kein Interesse daran, dass der Gerichtshof schneller urteilt?
Alle Staaten sind an einem effizienten Gerichtshof interessiert. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Menschenrechtskonvention ist freiwillig, kein Staat wird zum Beitritt gezwungen. Alle Staaten sind daher auch gehalten, die Urteile des Gerichtshofs zu vollstrecken. Denn diese sind bindend. Dass alle Staaten mitmachen, belegen nicht zuletzt die ständigen Reformbestrebungen wie die Konferenz von Interlaken, die von allen Staaten getragen werden.
Welcher Nutzen hat der Gerichtshof in Ländern wie der Türkei oder Russland, von wo immer wieder ähnliche Klagen eintreffen?
Der Beitritt von jedem Staat dient den Menschen dort. Eine Schweizer Zeitung beklagte einmal, ein bestimmter osteuropäischer Staat sei zu früh in den Europarat und die Menschenrechtskonvention aufgenommen worden. Tatsächlich war es jedoch so, dass dieser Staat wegen des Beitritts die Todesstrafe sofort sistierte und später abschaffte. Für über 100 Personen wurde darauf die Todesstrafe in eine Haftstrafe umgewandelt. Angesichts der Situation dieser Personen ist es für mich zynisch zu sagen, dass dieser Staat zu früh der EMRK beitrat.
Warum ist die Arbeit des EGMR so wichtig?
Der EGMR schützt die Rechte und Freiheiten des Individuums. Zudem kommt den Urteilen des Gerichtshofs vermehrt die Rolle des europäischen Mindeststandards zu, da der EGMR alle Staaten gleich behandelt und die Rechtsprechung für alle Staaten gleichermassen verbindlich ist.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
Der Schweizer Jurist ist seit September 2006 für das Fürstentum Liechtenstein Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der 59-jährige ist Titularprofessor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Zürich und arbeitet seit 1983 beim Gerichtshof in Strassburg beziehungsweise vor der Reform Ende der 1990er-Jahre bei der Europäischen Menschenrechtskommission. Villiger ist in Südafrika geboren, hat in Moçambique die Primarschule besucht und später Schulen in Südafrika und Österreich gemacht, wo er die Matur absolvierte. 1971 begann er das Jus-Studium an der Universität Zürich, wo er 1986 habilitierte. (mdr)
Der Schweizer Jurist ist seit September 2006 für das Fürstentum Liechtenstein Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der 59-jährige ist Titularprofessor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Zürich und arbeitet seit 1983 beim Gerichtshof in Strassburg beziehungsweise vor der Reform Ende der 1990er-Jahre bei der Europäischen Menschenrechtskommission. Villiger ist in Südafrika geboren, hat in Moçambique die Primarschule besucht und später Schulen in Südafrika und Österreich gemacht, wo er die Matur absolvierte. 1971 begann er das Jus-Studium an der Universität Zürich, wo er 1986 habilitierte. (mdr)
Der Schweizer Jurist ist seit September 2006 für das Fürstentum Liechtenstein Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der 59-jährige ist Titularprofessor für Europa- und Völkerrecht an der Universität Zürich und arbeitet seit 1983 beim Gerichtshof in Strassburg beziehungsweise vor der Reform Ende der 1990er-Jahre bei der Europäischen Menschenrechtskommission. Villiger ist in Südafrika geboren, hat in Moçambique die Primarschule besucht und später Schulen in Südafrika und Österreich gemacht, wo er die Matur absolvierte. 1971 begann er das Jus-Studium an der Universität Zürich, wo er 1986 habilitierte. (mdr)