50 Jahre Tibet-FlüchtlingeAls der Bundesrat China noch die Stirn bot
Die Solidarität war gross, als vor 50 Jahren die ersten tibetischen Flüchtlinge einreisten. Damals wagte es der Bundesrat noch, gegen China zu entscheiden.
Der Entscheid wäre heute undenkbar: Der Bundesrat bewilligte am 29. März 1963 die Aufnahme von 1000 tibetischen Flüchtlingen, die nach dem Tibeteraufstand 1959 nach Indien oder Nepal geflüchtet waren. Der Regierungsentscheid entsprach dem Willen der Schweizer Bevölkerung, die grosse Solidarität mit dem Bergvolk aus dem Himalaya zeigte. Gleichzeitig erzürnte der Bundesrat damit China, das damals noch kein wichtiger Wirtschaftspartner war. In der Zeit des Kalten Kriegs war das Grossreich für die Schweiz vielmehr ein kommunistisches Land, das ein kleines Bergvolk unterdrückte.
Heute wird dem Bundesrat mulmig angesichts der Taten seiner Vorgänger. So schlug er im März eine Einladung der Tibeter für den Anlass «Merci Schwiiz» aus, an der auch der Dalai Lama teilnimmt. Dort bedanken sie sich bei der Schweiz für die Aufnahme der tibetischen Flüchtlingen, die vor 50 Jahren startete. Im Juni 1960 begann im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen der Bau eines Tibeterhauses. Im Dezember bezogen 20 tibetische Kinder, die aus Indien eingereist waren, das Haus. Grund für die Hilfsaktion war die schlechte Situation der aus ihrer Heimat geflohenen Tibetern in der Himalaya-Region. «Die Lage in den nördlichen Tälern ist verzweifelt», schreibt Toni Hagen vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) im Februar 1961. Doch jetzt sei die Pilatus Porter eingetroffen, die der Stanser Flugzeughersteller dem IKRK für Hilfsflüge ausgeliehen hatte. Hagen setzte sich in der Schweiz für die Aufnahme von Flüchtlingen ein.
Kantone zur Aufnahme bereit
Die Solidarität anfangs der 1960er-Jahre trugen auch wichtige Schweizer Wirtschaftsführer mit. Das zeigt die sogenannte Pflegekinderaktion von Charles Aeschimann. Aeschimann war damals Direktor des Stromkonzerns Atel (Aare-Tessin AG für Elektrizität) und nahm ein tibetisches Flüchtlingskind bei sich auf. Nachdem mehrere Zeitungen darüber berichtet hatten, interessierten sich weitere Familien für eine Aufnahme. Aeschimann wurde bei der Eidgenössischen Fremdenpolizei vorstellig, die im Oktober 1961 die Aufnahme von 200 Kindern bewilligte. Dabei ging die Fremdenpolizei davon aus, dass sie «dauernd bei uns bleiben werden», und verzichtete deshalb auf eine gesicherte Rückreise, wie das sonst bei Flüchtlingen üblich war. Dass gegenüber den Tibetern Sympathien vorhanden waren, zeigt auch die Reaktion der Kantone. Diese erklärten sich zur Aufnahme weiterer Flüchtlingskinder bereit — was heute kaum noch vorstellbar wäre.
Bedeutende Aushängeschilder hatte auch der Verein Tibeter Heimstätte, der dem Bundesrat die Aufnahme der eingangs erwähnten 1000 tibetischen Flüchtlingen beantragt hatte. Präsident war der damalige Direktor der Maschinenfabrik Oerlikon, Sekretär war der Alpinist Albert Eggler, der 1956 eine Himalaya-Expedition leitete, und als Kollektivmitglied war das Schweizer Rote Kreuz vertreten. Dieses hatte sich auch bereit erklärt, die Flüchtlinge zu betreuen. Dem Bund entstanden keine Kosten, wie der Bundesrat betonte. Dafür kam der Verein auf. Dieser hatte auch für genügende Unterbringungs- und Arbeitsmöglichkeiten zu sorgen. Unter diesen Voraussetzungen äusserte sich das zuständige Justizdepartement EJPD positiv: «Dass den tibetanischen Flüchtlingen dringend geholfen werden muss, ist unbestritten», schrieb EJPD-Vorsteher Ludwig von Moos. Kenner würden die Tibeter «als bescheiden, willig und leicht anpassungsfähig» bezeichnen, und die bereits eingereisten Flüchtlinge seien zufrieden und die mit ihnen gemachten Erfahrungen gut.
Absage an China
Der Tibet war bereits damals ein heikles Thema für China, das 1949 in Tibet einmarschiert war. Im Mai 1960 sprach der chinesische Botschafter in der Schweiz beim Aussendepartement vor, um sich über eine Geldsammlung zugunsten des Tibeterhauses im Pestalozzi-Dorf zu beschweren. Das sei eine politische Aktion gegen China, die den bilateralen Beziehungen schade. Der Vertreter des Departements liess sich laut seiner Aktennotiz nicht einschüchtern und erklärte, «dass es immer eine schöne Aufgabe der Schweiz gewesen ist, ausländische Flüchtlinge aufzunehmen». Er habe in diesem Zusammenhang Lenin erwähnt, der vor der Oktoberrevolution 1917 in der Schweiz im Exil weilte — ein Seitenhieb auf die kommunistische Ideologie des chinesischen Staates. Auch drei Jahre später schreibt das EJPD — mit einer gewissen Bewunderung — vom «tapferen tibetischen Volke», dem gegenüber in der Schweiz «eine ausgesprochene Sympathie» vorhanden sei.
Quelle: Dokumente des Bundesarchivs
Der Dalai Lama in der Schweiz
Der Dalai Lama wird heute Donnerstag, dem 8. April, in Zürich an den Feierlichkeiten «Merci Schwiiz» teilnehmen. Die Tibeter möchten sich mit diesem Anlass bei der Schweiz für die Aufnahme von Flüchtlingen bedanken, die vor 50 Jahren begann. Zum Festanlass sind National- und Ständeräte eingeladen sowie Initianten der damaligen Aufnahme beziehungsweise Angehörige von ihnen. Teilnehmen wird auch die Zürcher Regierungspräsidentin Regine Aeppli. Der Bundesrat hat abgesagt offiziell aus terminlichen Gründen, aber offensichtlich, um China nicht durch ein Treffen mit dem Dalai Lama zu verärgern (20 Minuten Online berichtete).
Am Samstag, 10. April, spricht der Dalai Lama von 8.30 bis 9.30 Uhr zu den Teilnehmern des First European Tibetan Youth Parliament sowie zu den Mitgliedern des Vereins Tibeter Jugend in Europa, der dieses Jahr sein 40-jähriges Jubiläum in der Schweiz feiert.
Vom 9. bis 11. April nimmt der Dalai Lama an der Mind and Life Conference im Kongresshaus Zürich teil. Diese findet zum Thema Uneigennützigkeit und Mitgefühl in wirtschaftlichen Systemen statt. Zum Abschluss gibt es am Sonntagnachmittag, 11. April, von 13.30 bis 15.30 Uhr einen Public Talk im Hallenstadion. Der Dalai Lama spricht auf Englisch mit deutscher Übersetzung zum Thema Universelle Verantwortung und Wirtschaft. (mdr)