SonderwünscheDie grössten Schulschwänzer sind Christen
Dispense für Schwimmunterricht, für das Weihnachtstheater und die Klassenfahrt - wer dachte, dass dies eine muslimische Unsitte sei, liegt falsch. Christlich-fundamentalistische Gruppen lassen ihre Kinder häufiger von der Schule dispensieren als Angehörige anderer religiöser Gruppen.
«Schluss mit Sonderwünschen für Muslime»: Das Minarett-Verbot hat eine Diskussion um den Integrationswillen der Muslime logestreten. Zu den prominentesten Forderungen zählen jene nach der Abschaffung von Sonderregelungen für muslimische Schüler. Doch Tatsache ist: Gerade im Schulumfeld sind es nicht die Muslime, welche die meisten Extrawürste für sich beanspruchen, sondern Angehörige christlicher Freikirchen und Sekten. Gemäss einer Umfrage von Schweizer Radio DRS lassen sie die Kinder aus christlich-fundamentalistischen Kreisen häufiger von schulischen Lektionen dispensieren als Angehörige anderer Religionsgruppen.
«In der Öffentlichkeit wird über die Muslime diskutiert, die Faktenlage ist aber eine ganz andere», sagt Julia Morais von der Fachstelle für Integrationsfragen des Kantons Zürich gegenüber 20 Minuten Online. Die Zahl der Dispensanträge von muslimischen Eltern sei «geringer als diejenige von christlich-fundamentalistischer Seite.» Diese Beobachtung bestätigt Lilo Lätzsch, Präsidentin des Zürcher Lehrerverbandes, gegenüber Radio DRS. Angehörige dieser christlichen Kreise liessen ihre Kinder vermehrt von Schullagern dispensieren. «Sie befürchten, dass ihre Kinder Alkohol oder Drogen konsumieren oder den Kontakt zum anderen Geschlecht suchen könnten», so Lätzsch. Es gehe teilweise sogar so weit, dass stark evangelikale Kreise ihre Kinder gar nicht in die öffentliche Schule schicken möchten.
Christen-Fundis braten in der Schule schon lange ihre Extrawürste
Statistische Erhebungen zu den Gesuchen gibt es nicht. Gemäss der Umfrage stellt aber auch das Aargauer Bildungsdepartement mehr Dispensations-Gesuche aus christlichen Kreisen fest als von anderen Glaubens-Gemeinschaften, wie die zuständige Kommunikationsleiterin Irène Richner erklärte. Gerade zur Weihnachtszeit kämen aus christlichen Kreisen ab und zu Anfragen, damit Kinder von einem Weihnachtsspiel befreit würden. Meist seien es jedoch punktuell beantragte Schuldispensationen. Nebst Weihnachten sind vor allem auch Projektwochen zum Thema Hexen oder Zauberer ein Grund für Dispense, heisst es im Kanton Thurgau. «Diese Tendenz ist nicht neu, sondern lässt sich seit Jahren beobachten», so die Integrationsbeauftrage Morais gegenüber 20 Minuten Online. Diese Feststellung habe sie bereits vor fünf Jahren während ihrer Tätigkeit im Kanton Baselland gemacht.
Für den Sektenexperten Georg O. Schmid ist die Beobachtung keine Überraschung: «Magie, Hexen, Zauberei, östliche Religionen – das sind alles Reizthemen für viele Freikirchen und christliche Sekten.» Sie wollten damit nichts zu tun haben und seien bestrebt diesen Themen aus dem Weg zu gehen. Weihnachten und Schullager hingegen seien vor allem für die Zeugen Jehovas ein Problem. «Vorstellbar, dass sie mit Dispensen versuchen diesen Themen auszuweichen», so Schmid. Dispense für Schwimmunterricht seien aber überraschend. «Es gibt nur wenige ganz radikale Gruppen, die mit gemischtem Schwimmunterricht Probleme haben», so Schmid. Der Unterricht in der Badehose stellt laut Schmid vor allem für die muslimischen Glaubensangehörigen ein Problem dar.
Inzwischen ist den Moslems klar, dass sie am Schwimmunterricht teilnehmen müssen
Doch Julia Morais widerspricht dieser Sichtweise. Sie sei nicht mehr aktuell: Mit dem Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2008 sei ein Strich unter dieses Thema gezogen worden. «Inzwischen ist es klar, dass jeder und vor allem jede am Schwimmunterricht teilnehmen muss», ist Morais überzeugt. Die Muslime hätten das Problem mehrheitlich begriffen und akzeptiert. Morais stellt auch einen Wandel im Umgang mit Klassenlagern fest: Sei die erste Generation muslimischer Einwanderer mehrtägigen Ausflügen noch abwehrend gegenübergestanden, habe die Sichtweise der heutigen Generation sich verändert. «Die muslimischen Eltern von heute waren selbst in Klassenlagern und an Schulausflügen. Sie wissen, was das ist und bedeutet», so Morais. Sie steht dem momentanen «Aktionismus» deshalb auch kritisch gegenüber. «Mit Verboten erreicht man bei diesen Themen gar nichts.»
Schneemann oder Samichlaus - für die Zeugen Jehovas kein Problem
«Mit Schuldispensen haben wir grundsätzlich sehr wenig Probleme», sagt der Kommunikationsbeauftragte der Zeugen Jehovas, André Moser. Man habe noch nie negatives Feedback über die Zahl der Anträge erhalten. Es gebe auch keine offizielle Haltung zu Schuldispensen, weil man grundsätzlich an allem teilnehme mit gewissen Einschränkungen. An Oster-, Weihnachts- oder auch 1. Augustfeiern würden Angehörige der Zeugen Jehovas nicht teilnehmen. Sie würden auch keine Weihnachtsmänner basteln oder in Krippenspielen mitwirken. Man würde aber auch nicht eine Freistellung fordern, sondern sich mit etwas anderem beschäftigen. «Ob jetzt jemand einen Schneemann bastelt oder einen Samichlaus die Aufgabe ist dieselbe», so Moser. Beim Thema Schullager obliege der Entscheid den Eltern. «Vorstellbar, dass es dabei Fälle gibt, in denen Eltern nicht möchten, dass ihre Kinder mitgehen.»
Hansjörg Leutwyler, Zentralsekräter der Schweizerischen Evangelischen Allianz (SEA), ist überrascht von der Beobachtung. «Schuldispensen sind bei uns kein Thema», so Leutwyler. Unbestritten gebe es Themen, die man «nicht unbedingt haben wolle» wie Esoterik, Hexen oder Zauberei. Solange diese aber in normalen schulischen Rahmen thematisiert würden, sei dies aber kein Problem. «Bei Projektwochen oder ähnlichen in dem es nur darum gehe, kann ich mir aber vorstellen, dass Dispensen beantragt würden», so Leutwyler. Aber Weihnachten, Schullager oder auch Schwimmunterricht seien in der Regel kein Problem.
(amc)