GemeindepolitikMilizsystem am Abgrund
Wer heute als Gemeinderat einen Nachfolger sucht, muss schon mal das Dorf abtelefonieren. Nur wenige wollen sich in der Gemeinde engagieren. Das Rezept: Gesundschrumpfen.
Irene Wegmann hing die Kinnlade herunter, als ihr die Gemeindeschreiberin Anfang November die frohe Botschaft mitteilte: Die Versammlung ihrer Wohngemeinde Volken hatte sie als Schulpflegerin vorgeschlagen. Wegmann hatte nicht kandidiert, sie war nicht einmal an der Gemeindeversammlung gewesen. Das wollte die dreifache Mutter nicht einfach so auf sich sitzen lassen. Zusammen mit zwei Nachbarn, denen dieselbe Ehre erwiesen wurde, warb sie in der Gemeinde mit Flugblättern darum, nicht in die Schulpflege gewählt zu werden. Irene Wegmann hatte Glück. Eine andere Einwohnerin stellte sich für das Amt zur Verfügung.
Weniger Glück hat Kurt Baumann. Ende Oktober ist er in den Rat der Urner Gemeinde Bauen, 195 Einwohner, gewählt worden. Auch er hat nicht kandidiert, auch er fehlte bei der Wahlversammlung. Dafür schenkten ihm die Anwesenden einen warmen und erleichterten Applaus. Es hätte jeden treffen können. Nun ist Baumann ab Januar, findet er nicht einen triftigen Absagegrund, Gemeinderat wider Willen.
Telefonwerbung
Solche Szenen spielen sich in vielen Hundert der 2644 Gemeinden der Schweiz ab. 15 000 Gemeinderäte, Zehntausende von Kommissionsmitgliedern, Schul- und Kirchenpflegern brauchen all die Gemeinden, um sich zur verwalten. Es wird immer schwieriger, Freiwillige zu finden, die sich engagieren wollen. Wer zurücktreten möchte, finden meist nur mit Ach und Krach einen Nachfolger. Viele Ämter bleiben vakant.
«Zwei Drittel aller Gemeinden bekunden grosse Mühe, geeignete Kandidaten zu finden», weiss Urs Meuli, der als Soziologe an der Uni Zürich forscht und Gemeindepolitiker befragt. Betroffen sind vor allem mittlere und kleine Gemeinden. «Da greifen abtretende Amtsinhaber schon mal zum Telefon, um die Gemeinde nach möglichen Nachfolgern abzutelefonieren», erzählt Meuli.
Zwangsverwaltung
Wenn sich zu wenig Freiwillige finden, kann eine Gemeinde den Amtszwang anwenden. Wer gewählt wird, muss das Amt annehmen, sonst gibts eine Busse. Als Ausreden gelten nur ein hohes Alter, Krankheit oder das Engagement in einem anderen Gremium. «Amtszwang wird aber eher selten angewendet», sagt der der Lausanner Politologe Andreas Ladner. Meistens überzeuge man Kandidaten durch «gutes Zureden».
Nützt auch das nicht, wird die Gemeinde durch den Kanton zwangsverwaltet. Eine der wenige Gemeinden, welche dieses Schicksal bisher ereilt hat, ist das Baselbieter Dorf Hersberg, 278 Einwohner. Nach massiver Kritik trat im Sommer der gesamte Gemeinderat bis auf ein Mitglied zurück. Der verbliebene Rat regierte zwei Monate als Alleinherrscher, dann setzte der Kanton Baselland die Zwangsverwaltung durch. Der ehemalige SVP-Regierungsrat Erich Straumann steht seither der Gemeinde vor und versucht die Streitigkeiten im Dorf beizulegen.
Frustration
Der Zwangsverwalter gibt sich zuversichtlich, dass er bis nächsten Frühling einen neuen Gemeinderat zusammenstellen kann. Einfach werde es aber nicht. «Als Gemeinderat ist man Sachbearbeiter, man muss Berichte und Briefe aufsetzen, dieses und jenes erledigen», sagt Erich Straumann, der vor 40 Jahren seine politische Karriere als Gemeinderat begonnen hat. Heute werde die Arbeit weniger geschätzt. «Als Gemeinderat oder Schulpfleger ist man viel stärker der Kritik ausgesetzt als früher!», sagt Straumann. Wer sich ehrenamtlich engagiere und dafür noch hart einstecken müsse, schmeisse halt den Bettel hin.
Doch die Gründe für die Ehrenamts-Flaute liegen tiefer. «Einwohner orientieren sich weniger an ihrer Gemeinde», sagt Soziologe Meuli. Man arbeite in der Stadt, pflege überregionale Beziehungen, sei mobil. Die Bereitschaft, sich verbindlich zu verpflichten, sinke. Auch die globalisierte Arbeitswelt leiste dem Untergang des Milizsystems Vorschub. «Viele finden keine Zeit, neben dem Job auch noch in einer Kommission zu sitzen», sagt Meuli.
Schrumpfen
Die Institutionen der Gemeindepolitk, prophezeit Meuli, würden überleben. Doch sie würden schrumpfen. Gemeinden müssten ihre Verwaltungen zusammenlegen, sagt der Politologe Andreas Ladner. Die Zahl der Gemeinden werde sinken. «Vor einigen Jahren waren es 3000, in einigen Jahren werden es noch rund 2000 sein», sagt Ueli König, Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbandes.
Keine solchen Lösungen braucht Golaten, 297 Einwohner. In der kleinen Berner Gemeinde funktioniert es bestens mit der ehrenamtlichen Arbeit – weil sie nicht freiwillig ist. Sämtliche Gemeinderäte seien per Amtszwang gewählt, erzählt Gemeindepräsident Hansjörg Tüscher. Freiwillig in den Gemeinderat? «Das hat es in den letzten Jahrzehnten vielleicht ein oder zwei Mal gegeben», meint Tüscher nach längerem Überlegen. Es klappe gut mit den Gemeinderäten wider Willen. «Obwohl man nach zwei Jahren austreten könnte, macht das kaum jemand», sagt Tüscher. «Mit der Zeit bekommt man einfach Freude an der Arbeit!»