Führerlose Sekten

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Mit dem schlechten Gesundheitszustand der Sektengründerin Uriella ist auch der Orden Fiat Lux in die Krise geraten. Was geschieht mit einer Sekte, wenn der Guru nicht mehr da ist?

Daniel Huber
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Daniel Huber

In der Nacht des 18. November 1978 starben im Dschungel von Guyana 909 Mitglieder der Volkstempler-Sekte. Sie mussten sich auf Geheiss ihres Führers Jim Jones vergiften; wer sich dem Befehl widersetzte, wurde erschossen. Auch Jones beging Suizid. Mit dem Tod des Sektenführers und der meisten Mitglieder hörte die Volkstempler-Sekte faktisch zu existieren auf.

Nicht jede Glaubensgemeinschaft haucht indes zugleich mit ihrem Gründer ihr Leben aus. So hat beispielsweise eine kleine messianische jüdische Gemeinde vor rund zweitausend Jahren den Kreuzigungstod ihres Gründers nicht nur überlebt, sondern sich gar zur weltweit am weitesten verbreiteten Religion entwickelt – dem Christentum.

UFOs in Dozwil

Aber auch eher unbedeutende religiöse Splittergruppen erweisen sich mitunter als erstaunlich zäh. Das im thurgauischen Dozwil ansässige St. Michaelswerk zum Beispiel überstand gleich mehrere Krisen: Im Mai 1988 geriet die halbe Schweiz in eine wahre, von Boulevardmedien genüsslich befeuerte Hysterie, als der Gründer der Michalisvereingung Paul Kuhn den Weltuntergang voraussagte und die Abholung der Kinder der Sektenmitglieder durch ein UFO-Mutterschiff ankündigte. Obwohl beides nicht eintraf, konnte Kuhn die Autorität über seine Schäfchen wahren. Die Sekte überstand auch den Tod ihres Gründers im September 2002. Nach Angaben der Evangelischen Informationsstelle relinfo.ch hat seither Ueli Aeberhard als reinkarnierter Matthäus die Leitung des Werks übernommen.

Auch die christliche Gemeinschaft Methernita im bernischen Linden besteht nach wie vor. Sie machte 1976 schweizweit Schlagzeilen, als ihr Gründer Paul Baumann (genannt «Vatti») wegen sexuellen Übergriffen an Mädchen verurteilt wurde. Obwohl «Vatti» für sechs Jahre ins Gefängnis wanderte, überlebte die Sekte. Sie wird heute noch von dem mittlerweile über neunzigjährigen Baumann angeführt.

Yogische Flieger in Seelisberg

Eine weitere Sekte, die eine längere Freiheitsstrafe ihres Gurus – und bisher auch dessen Tod – überstand, ist das Divine Light Zentrum (DLZ) in Winterthur. Im Mai 1979 war dessen Vorsteher, Swami Omkarananda, zu vierzehn Jahren Haft verurteilt worden. Er hatte Anschläge auf das Leben von Gegnern des DLZ angeordnet. 2000 starb der Swami, doch das DLZ existiert nach wie vor.

Auch der Begründer der Transzendentalen Meditation, Maharishi Mahesh Yogi, der Guru der Beatles und zahlreicher anderer Showbiz-Grössen, weilt seit Februar 2008 nicht mehr unter den Lebenden. Doch seine Schöpfung erfreut sich noch bester Gesundheit: Die Organisation, in der Schweiz durch die yogischen Flieger von Seelisberg und die Naturgesetzpartei bekannt geworden, wird jetzt von Tony Nader, einem libanesischen Neurophysiologen geleitet. Unterstützt wird die TM heute noch von dem bekannten Regisseur David Lynch.

Salmonellen in Oregon

Von den zahlreichen anderen östlichen Gurus, die sich im Westen eine Gefolgschaft aufbauten, sind Sri Chinmoy und Bhagwan (Osho) wohl die bekanntesten. Sri Chinmoy starb im Oktober 2007, doch die nach ihm benannte Sri-Chinmoy-Gemeinschaft hat den Hinschied ihres Meisters bisher überlebt.

Einiges turbulenter verlief da die Entwicklung der Bhagwan-Gemeinschaft: Als «Rajneesh» Chandra Mohan Jain, bekannt als Bhagwan oder später auch Osho, 1990 diese Inkarnation verliess, hatte seine Sekte bereits mehrere schwere Zäsuren erlebt. Zuerst hatte Bhagwan im indischen Poona einen Ashram gegründet, in dem vornehmlich westliche Sinnsucher in Therapiegruppen sexuelle Erfahrungen machten. Nach Problemen mit den indischen Steuerbehörden verlegte er sein Zentrum 1981 nach Oregon, wo seine Anhänger eine Stadt gründeten. Hier kam es zu einem Eklat, als Bhagwans Sprecherin Ma Anand Sheela ein regelrechtes Terrorregime errichtete und überdies beim Versuch, die County-Wahlen zu beeinflussen, über 700 Menschen mit Salomonellen vergiftete.

Nach der Abschiebung Bhagwans und der Flucht Sheelas – sie lebt heute in der Schweiz – fiel die Kommune der Bhagwan-Jünger in Oregon in sich zusammen. Doch Poona, wohin Bhagwan schliesslich zurückgekehrt war, ist heute noch ein bedeutendes Zentrum für die «Sannyasins», die Anhänger Bhagwans.

Blutbad in Waco

Wie im Falle der eingangs erwähnten Volkstempler kann es für die Mitglieder einer Sekte lebensbedrohlich werden, wenn aus dem charismatischen Führer ein paranoider Tyrann wird. Dieses Schicksal erlitten die so genannten Davidianer, die Gefolgschaft von David Koresh (eigentlich Vernon Wayne Howell). Als US-Bundesbeamte 1993 ihre Siedlung Mount Carmel Center bei Waco in Texas stürmten, kam es zu einem Blutbad, bei dem 82 Sektenmitglieder den Tod fanden, einschliesslich Koresh. Doch nicht einmal dieses blutige Ereignis machte der Sekte den Garaus: Auch heute noch gibt es Davidianer verschiedener Richtungen, die sich auf Koresh berufen.

Wie zählebig religiöse Gemeinschaften sein können, zeigt sich auch am Beispiel der Church of Scientology. Gegründet in den Fünfzigerjahren vom Schriftsteller L. Ron Hubbard, der den weltanschaulichen Unterbau für die lukrative religiöse Organisation aus seinen Science-Fiction-Storys zurechtzimmerte, konnte Scientology ihren beträchtlichen Mitgliederstamm auch nach dem Tod von Hubbard im Januar 1986 halten. Nach einem kurzen Machtkampf setzte sich der damals erst knapp 26-jährige David Miscavige, der die Organisation heute noch führt, als Nachfolger des Sektengründers durch. Aus Hubbard hat die Scientology-Kirche – wohl eine der erfolgreichsten Sektengründungen des 20. Jahrhunderts – inzwischen eine mythische Figur gemacht.

So leben manche Sektengründer gewissermassen in ihren Schöpfungen weiter – immerhin ist wenigstens dies eine Art der Transzendenz.

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