Ein Besuch auf dem Strich der Zukunft

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Vorbild DeutschlandEin Besuch auf dem Strich der Zukunft

Verrichtungsboxen statt Strassenstrich - was in Zürich geplant ist, hat Essen längst umgesetzt. 20 Minuten Online hat sich beim deutschen Vorbild umgeschaut.

A. Mustedanagic/Ph. Rüegg
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A. Mustedanagic/Ph. Rüegg

Strassenstrich war Gestern: In Deutschland erobern abgesperrte Strichplätze die Szene. 20 Minuten Online hat in Essen nachgefragt, wie das Geschäft dort läuft und was die Vorteile sind. (Video/Schnitt/Ton: Philipp Rüegg; Interviews: A. Mustedanagic)

Langsam, ganz langsam biegt die weisse Stretchlimousine um die Ecke und entschwindet hinter dem Sichtschutz. Die grünen Wände an der Gladbeckstrasse erinnern von aussen mehr an einen Campingplatz als an einen Strassenstrich. Es ist ruhig an diesem Dienstagnachmittag auf dem Areal am Rande der Essener Innenstadt. «Die Stosszeit beginnt erst abends», sagt die Prostituierte Petra (Name geändert), «dann steht man mit dem Kunden schon mal im Stau für eine Verrichtungsbox.»

So witzig das Verkehrsvokabular klingt, so gut passt es. Die vielen Betonpfeiler und der Strassenschild-Dschungel auf dem gepflasterten Platz wecken mehr Erinnerungen an einen Übungspark für Fahrschüler als an Fantasien von frivolem Tun.

Petra ist eine von wenigen Prostituierten, die trotz früher Stunde das Geschäft suchen. Ihr Outfit ist klassisch: Der Rock kurz und eng. Die High Heels und das Strickjäckchen Ton in Ton mit der Schamesröte der wenigen vorbeifahrenden Freier. Kameras haben sie hier nicht gerne. Wäre die Polizei nicht beim Besuch dabei, würde es wohl nicht nur bei Schimpftiraden von den Damen vor Ort bleiben. Dabei müssten sich sowohl die Prostituierten als auch die Freier längst an das Medieninteresse gewöhnt haben.

Alarm rettet auch mal einen Freier

Essen hat vor zwei Jahren den Strassenstrich von der Pferdebahnstrasse auf den Rummelplatz verlegt, seither tauchen regelmässig Journalisten und Politiker auf. Inmitten von Prostituierten stand hier auch Daniel Leupi. Zürichs Polizeivorsteher machte sich im vergangenen März selbst ein Bild von den vielgepriesenen Verrichtungsboxen und dem «sichersten Strich Europas», wie die Medien gerne über den Essener Strich schreiben.

Dass es viel sicherer ist als früher, daran gibt es für Petra keinen Zweifel. War sie früher darauf angewiesen, dass sich die Kolleginnen das Kontrollschild eines Freiers merkten und notfalls Alarm schlugen, verschwindet sie heute mit Kunden nur einige Meter weiter in einer Verrichtungsbox. Die sichtgeschützten Parkplätze geben nicht nur Deckung, sondern verfügen auch über einen Alarmknopf. Bedrängt ein Freier eine Prostituierte, alarmiert sie damit die Kolleginnen.

Der Alarm geht immer mal los, sagt Petra. Zu Gewalt gegen eine der Damen kam es gemäss den Behörden bisher drei Mal. Im Vergleich zu den Übergriffen von früher eine verschwindend kleine Zahl. Petra musste selbst noch nie Alarm schlagen. Das letzte Mal, als die Sirene losheulte, retteten sie und ihre Kolleginnen allerdings einen Freier vor der Abzocke. Eine Roma hatte, so erzählt Petra, einem Freier «einen Dienst» angeboten, nahm ihm das Geld dafür ab, wollte ihn dann aber nicht einlösen. «Sie versuchte abzuhauen. Der Freier hielt sie daraufhin zurück und sie schlug Alarm.» Ärger gab es aber in der Folge für die Frau: «Wer einen Deal macht, muss ihn auch einhalten – sonst ruiniert sie uns allen das Geschäft», sagt Petra. Gemeinsam mit den Kolleginnen hat sie die Frau vom Platz vertrieben.

Nur noch ein Drittel der Frauen auf dem Strich

Die Szene hat sich mit dem Umzug auf den Rummelplatz kaum verändert. Ein Drittel der Sex-Arbeiterinnen sind Drogenabhängige, ein Drittel Migrantinnen und ein Drittel sogenannte gewerbsmässige Prostituierte – Hausfrauen, die sich was dazu verdienen, sagt Sozialarbeiterin Janina Znajewski. Sie betreut mit neun Kolleginnen die Prostituierten direkt auf dem Strich. Die Nähe zu den Frauen ist für sie ein Segen: «Die Vertrauensbasis ist enger, die Frauen kommen öfter und wir können viel besser helfen.» Ins Geschehen auf dem Platz greifen die Sozialarbeiterinnen nicht ein, das Regeln die Frauen wie im Falle der Roma alleine. Die Prostituierten greifen auch schon mal zu Besen und Abfalleimer und reinigen die Boxen, sagt Znajewski.

Das Geschäft ist mit den Verrichtungsboxen «sicherer, einfacher und auch schneller geworden», sagt Petra. Die Frauen bezahlen aber für die positive Entwicklung einen hohen Preis. «Das Geschäft ist massiv eingebrochen.» Auf dem abgegrenzten und sichtgeschützten Areal fehlt die Laufkundschaft. «Früher kamen Kunden zufällig und von überall aus Deutschland vorbei», sagt Petra, «jetzt sind es fast ausschliesslich Essener.» Hinzu kommt, dass die Freier den Verrichtungsboxen skeptisch gegenüberstehen. «Sie haben Angst, dass jemand beim Vorbeifahren etwas sieht – weil man hier ja langsamer fährt», sagt Petra. Dass es draussen auf irgendeinem öffentlichen Parkplatz nicht anders wäre, ändert an der Skepsis nichts.

Mit der sinkenden Nachfrage hat sich auch das Angebot verkleinert. 150 Prostituierte boten auf dem alten Strich ihre Dienste an, nun sind es noch zwischen 30 und 40. Die Stadt freut es. Sie kämpfte vor zwei Jahren mit denselben Problemen wie Zürich jetzt: Kondome in den Gärten, kopulierende Paare an öffentlichen Orten und Belästigungen von Passantinnen durch Freier. Die Beschwerden häuften sich und die Stadt sah sich gezwungen zu reagieren.

Der Streit um die besten Standplätze ist vorbei

400 000 Euro hat der Umbau des Rummelplatzes gekostet. 90 000 Euro kostet der Sozialdienst auf dem Platz jährlich. Aus Sicht der Verantwortlichen hat sich jeder Cent bisher gelohnt. Die ausufernde Prostitutionsszene gehört in Essen nicht nur der Vergangenheit an, der Erfolg hat die neuntgrösste Stadt Deutschlands zum Vorbild gemacht. Geht es nach der Stadt Zürich, wird ab 2012 in Altstetten auf einem ähnlichen Areal angeschafft wie hier.

Obwohl sie weniger Kunden und damit weniger Umsatz hat als früher, findet Petra, dass die Vorteile auf dem neuen Strich überwiegen. «Nicht nur für uns, sondern auch für die Freier.» Beispielsweise müsse man nicht durchs Quartier kurven, um ein Plätzchen zu finden. Klar geregelt seien auch die Standplätze der Prostituierten. Es gibt WC-Anlagen und ein Betreuungsangebot vor Ort. Die Federführung hat bei der Betreuung der Sozialdienst katholischer Frauen Essen, welcher von vier weiteren Sozialdiensten unterstützt wird. Zweimal im Monat kommt eine Ärztin vorbei, untersucht die Frauen und bietet kostenlos Aids-Tests an.

Das grösste Problem: die Gaffer

Das Interview dauert länger, als Petra lieb ist. Sie erwartet einen ihrer Freier - einen Stammkunden. Ihr Hauptgeschäft, wie sie sagt. Viel mehr als die gelegentlichen Pressebesuche stören die Prostituierte deshalb die Gaffer. Wie aufs Stichwort fährt ein roter VW zum zweiten Mal auf den Platz. Die vier Jungs darin grinsen und gucken, als ob sie seit drei Jahren keine Frau mehr gesehen hätten. Gewisse Spanner, sagt Sozialarbeiterin Znajewski, fahren auf den Platz, wenn sie mit der Arbeit beginne und fahren Stunden später immer noch im Kreis herum. «Was sie beim Gaffen sparen», sagt Znajewski, «geben sie für den Sprit aus.»

Die weisse Stretchlimousine ist nicht lange gekreist. Kaum auf dem Platz, verschwand der Wagen bereits wieder im Verkehr von Essen. Der Herr hinter den verdunkelten Scheiben hat an diesem Tag nicht gefunden, wonach er suchte.

Der Kirmesplatz von Essen in der Übersicht:

Potenzielle Freier fahren in Essen an der Gladbeckerstrasse auf den Strichplatz. Der Rundkurs ist durch Erdwalle und Sichtschutzwände vor Blicken geschützt. In der Einfahrt - der sogenannten Anbahnungszone - stehen erste Prostituierte, weitere bieten ihre Dienste auf dem Rundkurs oder vor den Boxen an. Kommen sie mit einem Freier ins Geschäft, fahren sie mit ihnen in eine der zehn Verrichtungsboxen. In Essen gibt es zudem Boxen für Fussgänger und Velofahrer sowie Stellplätze für Wohnwagen.

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