Gold verpasstZweimal scheitert Emmons mit dem letzten Schuss
Matthew «Matt» Emmons gehört zu den besten Schützen der Welt. Dem Amerikaner versagten in den wichtigsten Momenten aber zweimal die Nerven.
Ist Schiessen ein Antisport? Ist Schiessen ein Antisport, mit dem man Olympiagold gewinnen kann? Etwas boshaft könnte man sagen: Ja, so ist es. Denn ausgerechnet wer sich am wenigsten bewegt, hat die besten Chancen. Während andere Olympiateilnehmer schwitzen und sich schinden mit Velofahren, Gewichtheben und endlosem Rudern, ist für die besten Schützinnen und Schützen bei den entscheidenden Vorgängen jegliche Bewegung untersagt.
Mit dieser wohl etwas abschätzigen Ansicht verkennt man, dass es hunderte, tausende von Trainingsstunden und Wettkämpfen braucht, bis der Schütze seinen Körper mitsamt den Extremitäten dazu bringt, sich nicht zu bewegen. Viele der Trainingsstunden bestehen aus Schwitzen, aus Velofahren, Gewichtheben und Rudern. Wer einen Schnupperkurs besucht, wird bald merken, was gemeint ist. Er versucht mit ausgestrecktem Arm mit der Luftpistole auf die Scheibe zu zielen. Schon nach wenigen Sekunden beginnen der Unterarm und die Hand zu zittern. Jetzt könnte nur noch eine möglichst breit streuende Schrotladung den erhofften Erfolg bringen. Tatsächlich ist das Wettkampfschiessen auf internationalem Niveau längst schon ein Hochleistungssport.
Auf die falsche Scheibe gezielt
Einer der weltbesten Vertreter des Fachs ist Matthew «Matt» Emmons, 35-jähriger Amerikaner aus New Jersey. In der Kunst des Sich-nicht- Bewegens und des Im-rechten-Moment- Abdrückens nimmt er es seit bald 20 Jahren mit allen auf. Und dennoch schrieb er die wohl skurrilste Versagergeschichte, seit das Sportschiessen in das Programm der Olympischen Spiele aufgenommen wurde. Das war vor 104 Jahren.
Emmons fuhr 2004 als einer der ersten Medaillenanwärter an die Sommerspiele nach Athen. Sein Gewehr war kurz vor den Spielen im Trainingszentrum daheim in den USA sabotiert worden. Offenbar mit einem Schraubenzieher. Emmons musste sich eine Präzisionswaffe ausleihen. Damit funktionierte es bestens, er wurde Olympiasieger im 50-m-Liegendschiessen. Auch zum Abschluss der Schiesswettbewerbe, in der Königsdisziplin Dreistellungsmatch, hätte es nicht besser laufen können. Nach 129 von 130 Schüssen lag er mit dem Leihgewehr sehr deutlich in Führung. Selbst mit einem schwachen letzten Schuss hätte er noch Gold gewonnen. Aber jetzt kam der kurze Moment, die kurze unerwünschte Bewegung, die seine Karriere stark beeinflusste. Im letzten Augenblick vor dem Zielen schwenkte er mit dem Lauf auf die falsche Scheibe, auf die Scheibe links von der richtigen Scheibe. Der Schuss war sehr gut, nahe am bestmöglichen Wert von 10,9. Aber eben auf die falsche Scheibe abgegeben. Null. Statt Olympiasieger war er Letzter im Final der acht Schützen. Ein kompletter Loser war er keinesfalls, denn er war ja schon goldbehängt.
Wieder mit dem letzten Schuss gescheitert
Das Doppelgold, das er in Athen verpasst hatte, wollte Matthew Emmons 2008 an den Spielen in Peking nachholen. Schon nach dem Liegendschiessen jedoch musste er das Vorhaben abblasen. Statt Gold gewann er Silber. Seine Paradedisziplin war ohnehin schon immer der Dreistellungsmatch (3-mal 40 Schuss plus Final) gewesen. Dort startete er trotz des Flops von Athen als haushoher Favorit. Im Final über nur noch zehn Schüsse hatte er die Konkurrenz wieder im Griff, er erhöhte die Führung nach Belieben. Und wieder kam irgendwann der 130. von 130 Schüssen. Sein Vorsprung war abermals so gross, dass Emmons schon Gratulationen hätte entgegennehmen können. Aber alle, die zuschauten, kannten die Geschichte von Athen. Sie wussten, dass man abwarten musste. Diesmal war Emmons sicher, dass er die richtige Scheibe im Visier hatte. Er wusste auch, dass schon ein schlechter Schuss für den Triumph reichen würde. Als die Trefferanzeige aufleuchtete, traute niemand seinen Augen: 4,4. Es war kein schlechter, sondern ein extrem schlechter Schuss. Emmons fiel vom goldenen auf den ledernen 4. Platz zurück.
4,4 kann ein Weltklasse-Schütze in nüchternem Zustand niemals schiessen. Der zweitschlechteste Schuss aller Finalteilnehmer war eine 7,7. Emmons hatte sich zur Hauptsache Schüsse zwischen 9,4 und dem Maximum von 10,9 notieren lassen. Das Nachrechnen ergab, dass er schon mit einer 6,7, einem miserablen Schuss auf diesem Niveau, gewonnen hätte.
Schuss löste sich zu früh
Nach dem Wettkampf musste Emmons vor den internationalen Medien viel länger Rede und Antwort stehen als der chinesische Olympiasieger Qiu Jian. Er beschrieb sein neuerliches Missgeschick so: Er habe die Waffe gerade erst zur Scheibenmitte dirigiert, als sich der Schuss früh, viel zu früh, gelöst habe. Man muss dazu wissen, dass der Abzug des Olympiagewehrs 15-mal empfindlicher ist als der eines Jagdgewehrs. Emmons wollte nicht darüber sprechen, ob ihm während des letzten Schusses das monumentale Missgeschick von Athen durch den Kopf gegangen sei. Der unwillkürliche, frühe Druck auf den Abzug könnte die Folge eines fiesen kleinen Adrenalinstosses gewesen sein. Es gilt eben: Olympiasieger wird, wer sich nicht bewegt. Jedenfalls nicht im falschen Augenblick.
Wer glaubt, Matt Emmons habe an Athen und Peking vorwiegend ungute Erinnerungen, täuscht sich. In Athen lernte er am Abend nach seinem berühmt gewordenen Nuller die tschechische Spitzenschützin Katerina Kurkova kennen. Emmons-Kurkova gelten heute als glückliches Paar und darüber hinaus als das erfolgreichste Ehepaar im Schiesssport. Denn auch die Gattin hat schon eifrig olympisches Edelmetall gesammelt, sogar goldenes. In Rio soll die Medaillenjagd weitergehen. Und vielleicht muss sich Matthew Emmons wieder auf einen wichtigen 130. Schuss gefasst machen. (sda)