«Der Bär griff vielleicht an, weil er verletzt war»

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Getötete Schweizerin«Der Bär griff vielleicht an, weil er verletzt war»

Der Bär, der in Kanada eine Schweizerin angriff, hatte extrem Hunger und war womöglich verletzt. Dennoch beurteilt ein Experte den Fall als aussergewöhnlich.

von
ann

Reno Sommerhalder, eine Schweizerin wurde in Kanada von einem Grizzly getötet - eine tägliche Gefahr?

Bären können gefährlich sein, doch sind sie uns Menschen gegenüber meist sehr tolerant. Ich begebe mich seit 28 Jahren jeden Sommer in Alaska, Russland, Kanada und Europa unter die Bären. Ich habe noch nie einen Kratzer davongetragen.

Warum ist es in diesem Fall so weit gekommen?

Im Herbst müssen sich die Bären die letzten Fettreserven für die Winterruhe zulegen. Während dieser Hyperphagia fressen sie bis zu 18 Stunden pro Tag. In unserer Region und möglicherweise auch in Teslin, wo die Schweizerin wohnte, war es ein schlechtes Futterjahr. Wegen einer langen Trockenheit gab es kaum Beeren. Sie sind in den Rocky Mountains eine der wichtigsten Nahrungsquellen für die Bären.

Der Bär hatte also extrem Hunger?

Ja, es war ein älterer männlicher Grizzly, der eher unterernährt war für die Jahreszeit. Der Fall scheint mir dennoch ziemlich aussergewöhnlich.

Wieso?

Auch sehr hungrige Bären klettern im Normalfall nicht in ein Haus, um sich Futter zu holen. Vor allem dann nicht, wenn sich dort Menschen aufhalten. Das habe ich in meinen 28 Jahren, in denen ich Bären erforsche, noch nie erlebt. Ich glaube darum, dass der Bär schon die Erfahrungen gemacht hat, dass es in Behausungen von Menschen Fressen gibt.

Ist es typisch, dass ein Bär die Menschen sofort angreift?

Nein, nur wenn ein Bär sich bedroht fühlt, kann es vorkommen, dass er zu seiner eigenen Verteidigung Menschen attackiert. Es ist aber möglich, dass der Grizzly verletzt war und sich deswegen aggressiv verhielt. Schon in den Tagen zuvor hatten Nachbarn der Schweizerin berichtet, dass ein aggressiver Bär auf ihr Grundstück gekommen war. Es könnte sein, dass es sich um dasselbe Tier handelte.

Sie selbst sind vor Jahren in Ihrem Zelt von einem Bären überrascht worden. Er hat Sie dennoch nicht attackiert?

Ich hatte sicher Glück. Ich hatte ein kleines Schweizer Kuhglöckchen, das ich nachts jeweils an meinem Zelt befestigte. Dessen Gebimmel weckte mich auf, und als ich hochblickte, schaute mich ein Bär an. Er hatte dort ein Loch in mein Zelt gemacht, wo ich naiverweise Essen gelagert hatte. Er erschrak aber, zog den Kopf zurück und zottelte ab.

In der Regel nimmt ein Bär also Reissaus, wenn er einem Menschen begegnet?

Menschen werden kaum je von Bären angegriffen, obwohl es zu vielen Begegnungen kommt. Läuft man durch ein Bärengebiet, sollte man sich aber bemerkbar machen, um eine Überraschungsbegegnung zu vermeiden. Dann hat der Bär Zeit, sich aus dem Staub zu machen. Bären sind sehr intelligent und vertrauen einem Menschen, wenn sie merken, dass er ihnen nichts tut. Jedes Jahr habe ich Bärenmütter, die entspannt vor meinen Füssen ihre Jungen säugen, weil sie wissen, dass sie mir vertrauen können.

Buch-Vernissage:

Der Schweizer Bären-Experte Reno Sommerhalder lebt seit Jahren in Kanada. Am 27. Oktober ist im Zürcher Volkshaus die Taufe seines neusten Buches «Unter Bären und Tigern».

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