Grand Central, New YorkAlle Züge fahren verspätet – immer, mit Absicht
In New Yorks Grand Central Terminal fahren alle Züge nicht pünktlich nach Fahrplan. Das hat einen Grund.
Nach den Zügen in der Schweiz, so will es die Legende, kann man die Uhren stellen. Der Ruf der Exaktheit ist der Stolz helvetischer Eisenbahner, und Kollegen anderswo eifern dem Vorbild nach, auch in New York.
Doch in der schnellsten Stadt der Neuen Welt, wo gehetzte Passanten durch Menschenmengen auf dem Trottoir pflügen, nehmen es die Züge gemächlich. Im Prachtbahnhof Grand Central Terminal in Midtown Manhattan fahren die Pendlerzüge seit jeher eine Minute verspätet ab.
«Enthüllen Sie unser Geheimnis nicht!»
Eine empirische Erhebung der «New York Times» bestätigte die Praxis schon vor sechs Jahren. Es gehe darum, verspäteten Fahrgästen in allerletzter Minute zu ermöglichen, einen Zug doch noch zu erwischen.
Die damalige Sprecherin der Vorortsbahn Metro-North Railroad bat die Times um Diskretion. «Wenn alle wissen, dass sie eine Extraminute erhalten, werden sie die Zeit wieder vertrödeln», sagte sie. «Enthüllen Sie unser Geheimnis nicht!»
Pioniere des exakten Timings
Die Nachsicht mit Pendlern ist ungewöhnlich für die Eisenbahnen. Die Times erinnert daran, dass Amerikas «Railroads» Pioniere des exakten Timings waren. Sie erfanden die Zeitzonen auf ihren Strecken quer durch den amerikanischen Kontinent, 35 Jahre bevor diese im Gesetz festgeschrieben wurden.
Nach einem Artikel in «The Atlantic» von 2013 hat sich der 1-Minuten-Trick längst ausbezahlt. «Ob man es Time-Hacking nennt oder Verhaltenssteuerung oder bloss etwas Merkwürdiges: Es funktioniert», so das Magazin. So rühme sich das Grand Central Terminal, im Verhältnis zu den anderen Bahnhöfen landesweit der Bahnhof mit den wenigsten Ausrutschern, Stolperfällen und Stürzen zu sein – obwohl die Marmorböden rutschig seien.
Hinter Glück steckt Planung
Schliesslich hoffen alle verspäteten Passagiere, dass es ihnen immer noch reicht, den Zug zu besteigen. Und wenn sie sich an den Haltegriffen durch die Tür ziehen, obwohl der grosse Zeiger der Uhr schon eine Weile auf der Abfahrtsminute ruht, sagen sie sich: Der Zug fährt verspätet ab, da habe ich noch einmal Glück gehabt. Weit gefehlt: Es war nicht Glück, es war Absicht.