Männer haben Angst, sich allein mit Frauen zu treffen

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US-SexismusdebatteMänner haben Angst, sich allein mit Frauen zu treffen

US-Chefs wollen keine Einzelgespräche mit Frauen mehr führen, Kollegen verlieren an Lockerheit. Experten fürchten weitere Nachteile für Frauen.

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Ana Quincoces, Unternehmerin aus Miami, hat im Umgang mit männlichen Geschäftspartnern eine «gefühlte Wand» festgestellt. Viele hätten Angst vor einem Mittagessen zu zweit.
Jeden Tag kämen neue Vorwürfe von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, sagt Quincoces. Daher seien viele Männer vorsichtiger.
Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg befürchtet, dass diese neue Verunsicherung ungewollte Folgen für Frauen nach sich zieht.
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Ana Quincoces, Unternehmerin aus Miami, hat im Umgang mit männlichen Geschäftspartnern eine «gefühlte Wand» festgestellt. Viele hätten Angst vor einem Mittagessen zu zweit.

Keystone/AP/Beba Rodriguez

Bloss keine Verabredung zur Mittagspause, keine Neckerei über den Schreibtisch hinweg, kein vertrauliches Gespräch in der Teeküche. Inmitten stetig neuer Vorwürfe von sexistischem Verhalten, gerade auch auf höchster Ebene, fühlen sich viele Männer am Arbeitsplatz verunsichert. Das Klima, das zahlreiche Frauen ermutigt hat, über ihre Erniedrigungen zu sprechen, schüchtert gleichzeitig ein.

«Ich kann schon eine Gegenreaktion grollend aufziehen hören: ‹Darum sollten Sie keine Frauen einstellen!›», heisst es in einem mahnenden Posting von Facebook-Geschäftsführerin Sheryl Sandberg. Es passiere derzeit so viel Positives in Sachen Arbeitsatmosphäre und Verhalten am Arbeitsplatz. «Lassen Sie uns sicherstellen, dass es nicht die ungewollte Folge nach sich zieht, Frauen aufzuhalten.»

Panische Angst vor Drink zu zweit

Plötzlich sei da eine «gefühlte Wand» im Umgang mit männlichen Geschäftspartnern, beklagt die Unternehmerin Ana Quincoces aus Miami. Ihr Lebensmittelhandel und dessen Erfolg stütze sich vielfach auf den Beitrag von Männern. Absprachen würden oft bei einem Drink oder einem Mittagessen getroffen.

Solche Möglichkeiten sehe sie jedoch immer weniger, sagt Quincoces, denn viele ihrer männlichen Geschäftspartner reagierten schon nahezu panisch, viele vermieden Zweiertreffen, die bislang völlig normal gewesen seien.

«Jeden Tag neue Vorwürfe»

«Es ist ein Gefühl, als ob diese Wand plötzlich da ist, weil sie nicht mehr wissen, was noch angemessen ist – es ist beunruhigend», erklärt Quincoces. «Ich habe den Eindruck, sie sind vorsichtiger, förmlicher im Umgang mit Kolleginnen. Und ich kann es ihnen nicht verübeln, denn die Vorfälle sind allgegenwärtig. Jeden Tag gibt es neue Vorwürfe.»

Dass die bedrängten und genötigten Frauen sich an die Öffentlichkeit wagen, begrüsst die Unternehmerin. «Es ist eine gute Entwicklung, weil die Frauen keine Angst mehr haben», sagt sie. Andererseits seien eben auch kontraproduktive Auswirkungen zu erwarten.

Vorsicht statt Komplimente

In einer Umfrage der «New York Times» vom vergangenen Frühjahr erklärten fast zwei Drittel der Befragten, sie seien besonders vorsichtig im Umgang mit Kollegen des anderen Geschlechts. Etwa ein Viertel äusserte sogar die Ansicht, dass private Arbeitstreffen von Männern und Frauen unangemessen seien.

Die jüngste Welle der Sexismus-Vorwürfe hat diese Vorsicht deutlich verstärkt. Plötzlich fragen sich auch früher lockere Kollegen, ob sie ihrer Kollegin noch ein Kompliment machen oder sie nach ihrem Wochenende fragen dürfen.

Keine vertraulichen Gespräche

So mancher Manager treffe Vorkehrungen, um Situationen zu vermeiden, in denen er allein mit einer Angestellten wäre, sagt Philippe Weiss vom Rechtsberatungsunternehmen Seyfarth Shaw at Work in Chicago. Auch wenn das bedeute, dass beispielsweise in vertraulichen Gesprächen zur Leistungsbeurteilung eine weitere Person dabei sein muss, erläutert er.

Dem Wirtschaftsanwalt Jonathan Segal sind schon Ankündigungen einiger Männer zu Ohren gekommen, dass sie Frauen lieber vor ihren Bürotüren stehen lassen wollten als das Risiko von Vorwürfen oder Gerüchten einzugehen. «Dieses Thema der Vermeidung ist meine grösste Sorge», betont Segal, «denn die Marginalisierung von Frauen in der Geschäftswelt ist mindestens ein so grosses Problem wie die Belästigung.»

Verzicht auf direkten Kontakt ist problematisch

Laut einem kürzlich veröffentlichten Bericht über 222 nordamerikanische Unternehmen sinkt der Frauenanteil von 47 Prozent bei der Einstellung auf 20 Prozent, wenn es um das Erreichen der Führungsspitze geht.

Daher stehen Segal und Facebook-COO Sandberg mit ihren Warnungen nicht allein. Die direkte Zusammenarbeit mit Mitarbeitern wegen ihres Geschlechts einzuschränken, sei problematisch, erklärt Psychologieprofessor W. Brad Johnson. Zumindest dann, wenn dadurch die Möglichkeiten im Beruf beschnitten würden.

«Ich bin ein Profi, er ist ein Profi»

Eingeschränkte Kontakte sendeten eine beunruhigende Botschaft, sagt Brad Johnson, Autor eines Buches, das eigentlich Männer zum Mentorat für junge Kolleginnen ermutigt: «Wenn ich wegen Ihres Geschlechts kein Einzelgespräch mit Ihnen führen wollte, würde ich Ihnen vermitteln: ‹Ich kann mich nicht auf Sie verlassen, Sie sind ein Risiko.›»

Jessica Proud, Politikberaterin für die Republikaner, erinnert sich, dass sie während eines Wahlkampfs aufgefordert wurde, nicht mit dem Kandidaten zu reisen, weil das womöglich Anlass für Getuschel gäbe. Doch genau das sei verkehrt und in vieler Hinsicht auch beleidigend. «Ich bin ein Profi, er ist ein Profi. Wieso sollte meine Berufserfahrung eingegrenzt werden?», fragt sie.

Erzählen Sie uns Ihre Story zum Thema Sexismus am Arbeitsplatz.

(mlr/ap)

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