Die Leichensammler von Mumbai

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ÜberlebenskampfDie Leichensammler von Mumbai

Im indischen Mumbai sterben jährlich über 6000 Menschen bei Bahnunfällen. Ihre Überreste beseitigen Ravi und seine Kollegen – für umgerechnet 2.60 Franken pro Leiche.

Rachel O'Brien
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Rachel O'Brien
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Als er von zu Hause weglief, war Ravi gerade einmal sieben Jahre alt - ein Zug brachte ihn aus dem Norden Indiens nach Mumbai. Fast 30 Jahre später lebt Ravi noch immer dort, wohin der Zug ihn einst brachte: an einem Bahngleis in Mumbai, der Wirtschaftsmetropole Indiens.

Mit seinen einstigen Träumen vom Leben in der Grossstadt hat Ravis Alltag am berühmten Chhatrapati-Shivaji-Terminus nichts zu tun. Denn um zu überleben, schafft der 35-Jährige auch Leichenreste von den Gleisen.

Diese Überreste sind das, was von Menschen bleibt, die beim Überqueren der Gleise von Zügen überrollt wurden. Rund 6000 Frauen und Männer im Jahr kommen einer Regierungsstudie zufolge allein in Mumbai auf diese Art ums Leben, etwa 15 000 sind es im ganzen Land.

Weitere 15 000 Menschen sterben demnach an und auf den indischen Eisenbahnstrecken, weil sie sich aussen an überfüllte Züge klammern und mit Masten am Gleisrand kollidieren - oder indem sie sich selbst töten.

Schnüffeln macht die Arbeit erträglich

Manchmal sind die Leichen derart grauenvoll zugerichtet, dass Ravi seine Tätigkeit nur mit Schnüffelgift berauscht ertragen kann. «Anders wäre das gar nicht zu schaffen», sagt der zierliche Mann, der immer wieder Dämpfe aus einem mit Putzmittel getränkten Lappen inhaliert. Ravi berichtet, dass er jeden Tag drei kleine Flaschen Putzmittel zum Schnüffeln braucht.

Der kärgliche Tagelohn von Ravi und den anderen, die sich normalerweise als Kofferträger und Hilfsarbeiter verdingen, kann sich schlagartig verdoppeln, sobald ein Toter oder ein Verletzter auf den Gleisen nahe des Bahnhofs entdeckt wird.

Denn dann alarmieren die Bahnhofsmitarbeiter sie, um die Leiche, die Leichenteile oder den Verletzten wegzutragen. Das bringt bis zu 150 Rupien (2.60 Franken).

Ravi und seine «Kollegen» erklären, wie sie die Toten oder Verletzten mit Tragen wegbringen. Manchmal tragen sie sie sogar bis zum nächsten Spital. Die Toten würden dort ein letztes Mal untersucht. «Früher hat mir das alles Angst gemacht», sagt Ravi. «Aber mittlerweile ist es Gewohnheit.»

Eisenbahn toleriert die Bahngleis-«Bewohner»

Inoffizielle Abmachungen, dass Bahngleis-«Bewohner» Tote und Verletzte von den Gleisen wegbringen, gibt es in vielen Gebieten Indiens, wie Mrinalini Rao berichtet, die einstige Leiterin der Wohltätigkeitsorganisation Eisenbahn-Kinder.

Als Gegenleistung für die grausame Arbeit «drücken die Behörden ein Auge zu, was diese Jugendlichen auf den Bahnhöfen angeht - sie können weiter auf dem Gelände leben».

Offiziell Kuli

Der für Ravis Chhatrapati-Shivaji-Terminus zuständige Behördensprecher V.A. Maleganokar bestätigt, dass es «offizielle Kulis» gibt. Sie unterstützten die Polizei beim Transport von auf und an den Gleisen entdeckten Toten und Verletzten.

Es komme aber nur «höchst selten» vor, dass die Helfer die Opfer bis zum Spital trügen. Von einer Verbindung zwischen der Arbeit als «offizieller Kuli» und einer informellen Aufenthaltserlaubnis auf den Bahnhöfen will der Sprecher aber nichts wissen.

Tausende unbegleitete Kinder

Ravi wurde als Kind von der Polizei von seiner Bahnhofsbleibe weg in ein Kinderheim gebracht, aus dem ihn sein Bruder jedoch bald wieder herausholte. Schliesslich kehrte Ravi aufs Bahnhofsgelände zurück: «Meine Sucht, meine Freunde und die Gewohnheit brachten mich wieder hierher.»

Noch heute kommen alljährlich tausende Kinder allein nach Mumbai. Mädchen geraten oft in die Fänge von Menschenhändlern und Zuhältern, deswegen sind es überwiegend Jungen und Männer, die die Bahnhöfe durchstreifen - so wie Ravi oder der 20-jährige Harish.

Harish berichtet, er sei mit 14 vor den Schlägen zu Hause davongelaufen. Jetzt ist er seit Jahren mit dem Wegbringen der Toten und Verletzten am Bahnhof beschäftigt und sagt: «Wir fühlen uns nicht wohl in diesem Leben - aber wir haben uns daran gewöhnt.»

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