Die fremde, unkoschere Welt von nebenan

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Orthodoxe JudenDie fremde, unkoschere Welt von nebenan

Sie wollen nicht auf Internet oder Unterhaltung verzichten: Viele junge ultra-orthodoxe Juden kehren dem strengen Lebensstil der «Haredim» den Rücken.

Als Chaim Rubinstein 14 war, entdeckte er den Rest der Welt. Er hörte mit seinem Radio zum ersten Mal Geschichten und Musik, die so gar nicht in die strenge Lehre seiner ultra-orthodoxen Toraschule passten. In seiner Jeschiva in Jerusalem sollte er zu einem gottesfürchtigen Juden erzogen werden, einem Haredi.

Mehr als Tora und Talmud interessierten Chaim jedoch die Lehren aus dem Radio. Er ging aus, lernte ein Mädchen kennen, sie wurde später seine Freundin. Rubinstein flog aus der Jeschiva und kehrte der ultra-orthodoxen Gemeinschaft den Rücken.

Mindestens 7,8 Prozent der Strengreligiösen verlassen irgendwann die Gemeinschaft, hat das staatliche Statistikbüro Israels ermittelt. Unter den 20- bis 25-Jährigen ist es sogar jeder Zehnte.

Deutlicher Trend

Mosche Schenfeld spricht von einem «sehr deutlichen Trend». Er ist Gründer und Chef der NGO «Out for Change». Die Organisation hilft ehemaligen Ultra-Orthodoxen bei den ersten Schritten: einen Job und eine Wohnung zu finden, ein Bankkonto zu eröffnen, sich an der Universität zu bewerben.

«Wenn du rauskommst, fühlst du dich wie ein Fremder im eigenen Land», sagt Chaim Rubinstein. Heute ist er 27, trägt moderne Kleidung, geht ins Fitnessstudio und arbeitet beim Radio - dem Medium, dem er das alles verdankt. Von Bnei Brak, der ultra-orthodoxen Stadt seiner Eltern, zog er in einen anderen Vorort von Tel Aviv.

Fehlende Schulbildung

Rubinstein glaubt immer noch an Gott, richtet allerdings anders als seine Eltern und die sieben Geschwister sein Leben nicht mehr nach den orthodoxen Regeln aus. So darf man am Schabat, also von Freitag bis Samstagabend, nicht arbeiten - nicht einmal einen Knopf drücken. «Als ich zum ersten Mal am Schabat das Licht anmachte, dachte ich, gleich stürzt der Himmel ein», erinnert Rubinstein sich.

Sein Ausstieg ist zwölf Jahre her, damals gab es «Out for Change» noch nicht. Er lebte fünf Monate lang bei einem Cousin in London. Mit Einkaufszetteln und U-Bahn-Ansagen brachte sich Rubinstein selbst Englisch und das lateinische Alphabet bei. Trotzdem, sagt er, fehlt ihm ein grosser Teil seiner Schulbildung.

Deshalb klagt Rubinstein gemeinsam mit 52 weiteren Aussteigern sein Recht auf Bildung ein. Sie fordern vom Staat ein Programm, das ihre Lücken aus der Jeschiva etwa in Englisch, Mathematik oder Geschichte schliesst.

Keine Bildung — mit Absicht

An der Klage ist auch «Out for Change» beteiligt. Mosche Schenfeld hat nach seinem Ausstieg sein Studium an der Hebräischen Universität nachgeholt. Er vergleicht seine Schulbildung aus der Toraschule mit der eines Drittklässlers.

Dass in den religiös ausgerichteten Jeschivas so wenig säkulärer Unterricht stattfindet, hält Rubinstein für Absicht: «Die orthodoxe Gesellschaft will nicht, dass man sie verlässt. Deshalb geben sie einem nicht die Werkzeuge dafür.»

Offene Tür schaffen

Das will Avi Tapilinsky ändern. Der ehemalige Rabbi hat ein Zentrum für Aussteiger eingerichtet: «Unser Hauptziel ist es, dass die ultra-orthodoxe Gemeinschaft bleibt, wie sie ist, aber gleichzeitig eine offene Tür hat für diejenigen, die raus wollen.»

In den vergangenen zehn Jahren hat Tapilinsky starke Veränderungen beobachtet: Die Medien berichten häufiger über Aussteiger. Zuletzt seien vermehrt auch Familien aus der Gemeinschaft ausgetreten. Für Einzelpersonen sei es oft schwieriger. Besonders das Internet hat sich als nützliches Werkzeug für Aussteiger erwiesen.

Ein koscheres Handy für Ultra-Orthodoxe

«Jede Zeit bringt immer neue Herausforderungen, die wir meistern müssen», sagt Izchak Pindrus, der für die ultra-orthodoxe Partei Degel Hatora (Banner der Tora) im Stadtrat von Jerusalem sitzt. Zum Beweis präsentiert er sein koscheres Handy, mit dem man weder surfen noch spielen kann. Er glaubt nicht, dass die Haredim-Gemeinschaft in Gefahr ist: «Wenn zehn Prozent gehen, heisst das umgekehrt, 90 Prozent bleiben in der Kultur ihrer Eltern.»

Chaim Rubinsteins Eltern haben, nachdem er beim Militär die Kippa ablegte, vier Jahre lang kein Wort mit ihm gewechselt. «Sie haben aber langsam gelernt, dass ich immer noch derselbe bin», sagt er. «Heute ist alles perfekt, aber das Glück hat nicht jeder.» (sda)

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