Einsatz im Gazastreifen«Ich will meinen Kopf gegen eine Wand hauen.»
An einem einzigen Tag hat Sanitäter Haitham Adgheir fünf Tote geborgen. Im Krankenhaus sieht er weitere Leichen. Und dann wird sein Rettungswagen auch noch beschossen. «Meine Gedanken sind wie ein Film mit Körperteilen und Verletzten», sagt der 33-Jährige.
Im Krankenhaus sieht er weitere Leichen. Und dann beschiessen israelische Soldaten auch noch seinen Rettungswagen. «Meine Gedanken sind wie ein Film mit Körperteilen und Verletzten», sagt der 33-Jährige. Die rund 400 freiwilligen und hauptamtlichen Sanitäter im Gazastreifen sind seit Beginn der israelischen Offensive nahezu rund um die Uhr im Einsatz und werden mit dem Schlimmsten konfrontiert.
«Abscheulich reicht dafür nicht als Wort», sagt Schawki Saleh. Bis sie die Leichen trotz der andauernden Kämpfe bergen könnten, machten sich oft schon Tiere an den Toten zu schaffen, sagt der 24-jährige. «Wenn es kein Hund ist, dann sind es Ratten. Ich habe diese Arbeit als Freiwilliger seit zwei Jahren gemacht, aber ich dachte nie, dass ich so etwas zu sehen bekommen würde.» Niemand wisse genau, wie viele Opfer noch unter den Trümmern bombardierter Häuser liegen, sagt der Sanitäter des Krankenhauses Kamal Adwan in Beit Lahija.
Doch die Rettungseinsätze sind gefährlich. Immer wieder geraten Sanitäter unter Beschuss israelischer Soldaten, trotz Koordination ihrer Einsätze mit dem Militär. Jede Bewegung der Rettungsfahrzeuge werde den Streitkräften vom Roten Kreuz über Handy gemeldet, erklärte die Organisation in in Genf. Doch laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden seit Beginn der israelischen Offensive 21 Mitarbeiter der Rettungskräfte getötet, 30 weitere verletzt und elf der dringend benötigten Einsatzfahrzeuge beschädigt.
Scharfe Kritik vom Roten Kreuz
Israel erklärt, die Streitkräfte versuchten die Einsätze bestmöglich zu koordinieren und würden nicht auf eindeutig gekennzeichnete Rettungsfahrzeuge schiessen. «Das Gebiet ist Ort von Kampfhandlungen und natürlich ist das Risiko eines Sanitäters im umkämpften Gebiet Feuer von allen Seiten», sagte ein Militärsprecher, Benjamin Rutland. Viele palästinensische Sanitäter im Gazastreifen sagen jedoch, auf sie sei gezielt geschossen worden. Als Sanitäter des Roten Halbmonds sagt Adgheir, israelische Soldaten hätten in der vergangenen Woche trotz Koordination der Einsätze vier Mal auf ihn geschossen.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat Israel in der vergangenen Woche ungewöhnlich scharf kritisiert und dem Land Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht vorgeworfen. Es gebe bei Rettungseinsätzen völlig inakzeptable Verzögerungen, hiess es. Ein Anlass der öffentlichen Kritik war ein Fall aus der Siedlung Sajtun, bei dem Helfer vier Tage lang nicht zu einem bombardierten Haus gelangen konnten. Dort harrten in dieser Zeit vier Kinder neben der Leiche ihrer Mutter aus.
Sanitäter Ahmed Abu Sal erinnert sich an den Einsatz in Sajtun. Er habe ein kleines Mädchen gefunden, vielleicht neun Jahre alt, sagt der 26-Jährige. Sie habe sich noch am Leichnam ihrer Mutter festgehalten und habe wegen völlig Austrocknung nicht mehr sprechen können. Später traf er noch auf eine ausgemergelte Frau, die über zwei Tote kauerte und weinte, offenbar waren es ihre Söhne.
Alpträume verfolgen die Retter
Die Sanitäter haben keine Zeit, das Erlebte zu verarbeiten, denn die israelische Kriegsmaschinerie lässt den Gazastreifen nicht zur Ruhe kommen. Mehr als 820 Menschen wurden palästinensischen Angaben zufolge getötet, weit über 2.000 verletzt. Viele Einsatzkräfte sind stark übernächtigt. Wenn sie doch Zeit zum Schlafen finden, werden viele von Alpträumen geplagt - und dem Wissen, dass der Krieg laufend neue Opfer fordert. Am Freitag versammelten sich Ärzte und Sanitäter im Schifa-Krankenhaus in Gaza mit Angehörigen von Verletzten zur gemeinsamen Andacht. In blutverschmierten Kitteln beteten sie für die Opfer. Doch nach wenigen Augenblicken brachte ein Rettungswagen erneut einen Schwerverletzten - und sie eilten zurück zur Arbeit.
Mohamed Asajseh sagt, dass Schlimmste sei nicht der Anblick der Toten, sondern das Retten der Schwerverletzten, denen oft Gliedmassen fehlten und die markdurchdringend um Hilfe schrien. «Was kannst Du da tun?» fragt der Sanitäter verzweifelt. «Ich will meinen Kopf gegen eine Wand hauen.» (dapd)
Entsetzen und Ohnmacht
Der Schweizer IKRK-Delegierte Raphaël Bonvin, derzeit im Gazastreifen im Einsatz, spricht von ungewöhnlich harten Kämpfen. Die Vorgänge im Gazastreifen liessen sich nicht mit Sri Lanka oder Tschad vergleichen, wo er schon als IKRK-Delegierter im Einsatz gewesen war.
Der 33-jährige Walliser ist seit September für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) in Gaza-Stadt. Bonvin und ein weiterer IKRK-Delegierter sind derzeit die zwei einzigen Schweizer im Gaza-Streifen.
Er empfinde eine grosse Traurigkeit, fast Entsetzen und zugleich Ohnmacht. «Es ist nicht möglich allen zu helfen», erklärt er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur SDA.
Das Büro des IKRK ist mit schweren Fensterläden aus Eisen gesichert. Der Blick auf das Kampfgebiet eröffnet sich ihm also erst, wenn er draussen im Einsatz ist.
Dann sehe er die zerstörten Häuser und Strassen und die umherirrenden Obdachlosen. Die Gräuel offenbarten sich, wenn sie den Leuten zu helfen versuchten. Und die Menschen erwarteten viel vom IKRK. Es sei schwierig, solchen Erwartungen gerecht zu werden, sagt der Delegierte.