Verdingkinder«Die Akteneinsicht macht Betroffene oft wütend»
Ab dem 24. März präsentiert die Berner Archivarin Yvonne Pfäffli Schicksale von Verdingkindern. In ihrem Berufsalltag erlebt sie oft traurige Geschichten.

Die Archivarin Yvonne Pfäffli hilft Verdingkindern, an ihre Akten zu gelangen.
Frau Pfäffli, wieso sind Sie gerade jetzt auf die Idee gekommen, das Thema Verdingkinder im Rahmen einer Ausstellung im Berner Kornhausforum aufzurollen?
Ich arbeite seit zweieinhalb Jahren im Stadtarchiv Bern. Während dieser Zeit haben die Anfragen von Personen, die ihre eigenen Akten einsehen möchten, stark zugenommen. Letztes Jahr habe ich 70 solcher Anfragen bearbeitet und befasse mich tagtäglich mit den verschiedenen Schicksalen. Zudem befinden sich im bernischen Archiv 30'000 Aktendossiers der ehemaligen Fürsorgebehörde, alle aus dem Zeitraum zwischen 1920 und 1960. Dass so viele Akten überliefert sind, ist nicht überall der Fall. Zudem wurde mir bewusst, wie wie wichtig die Akten für die Betroffenen sind.
Ihr Job verlangt Ihnen emotional einiges ab. Welches der Schicksale hat Sie persönlich am meisten berührt?
Sehr eindrücklich war sicher eine meiner ersten Anfragen, als ein über 90-jähriger Mann im Stadtarchiv Bern vorbeikam und mir an der Theke seine Geschichte erzählte. Er machte grundsätzlich einen zufriedenen Eindruck, aber ich merkte, dass ihn die Erinnerungen an seine Kindheit sehr beschäftigten. Zusammen mit 13 Geschwistern ist er in Bern aufgewachsen und wurde auf einen Bauernhof verdingt. Sein Leben dort war geprägt von harter Arbeit und vielen Schlägen – als Stadtkind wurde er auf dem Land nicht akzeptiert und durfte auch keine Lehre machen. Eindrücklich war aber auch die Begegnung mit einem Ehepaar. Beide waren ehemalige Verdingkinder und hatten den gleichen Vormund. Sie haben sich aber erst als Erwachsene kennengelernt. Zwei ihrer Vormundschaftsberichte sind sogar im selben Band abgelegt worden, was bei insgesamt 800 Bänden doch erstaunt.
Was erhoffen sich die Leute, wenn sie mit Anfragen zu Ihnen gelangen?
Klarheit. Für die Betroffenen sind dies Beweisstücke, die das oftmals geschehene Unrecht nicht rückgängig machen, aber Klarheit über die damaligen Geschehnisse schaffen. Für Nachkommen von Betroffenen ermöglichen Akten den Zugang zu bisher Unbekanntem. Viele ehemalige Verding- und Heimkinder haben nicht über ihre Erlebnisse gesprochen, weil sie sich auch nach Jahren noch geschämt haben.
Die Einsicht in die Akten macht die Betroffenen teils aber auch traurig oder wütend, wenn sie etwa die vernichtenden Urteile über ihre Mütter lesen, die sie als liebende Person in Erinnerung haben.
Und wie gehen Leute damit um, wenn sie keinen Fussabdruck im städtischen Archiv hinterlassen haben?
Schwierig ist, wenn keine Akten da sind. Für die Betroffenen ist es dann so, wie wenn ihre Erinnerungen nicht wahr sind.
Wie können Sie die vielen traurigen Schicksale ertragen und verarbeiten?
Ich habe einen intensiven, aber nur kurzen Einblick in die Leben von ehemaligen Verding- und Heimkindern. Nach der Begleitung bei der Akteneinsicht ist meine Arbeit zu Ende. Einerseits berühren mich viele Schicksale sehr, aber andererseits muss ich mich auch abgrenzen. Die grosse Dankbarkeit der Betroffenen, dass ich sie ernst nehme und ihnen helfe, die Akten zu finden, gibt meiner Arbeit sehr viel Sinn und spornt mich an.
Ausstellung im Kornhausforum
Jahrzehntelang wurde die Geschichten rund um die Verdingkinder tot geschwiegen. In den letzten Jahren wurde das Tabu gebrochen. Vom 24. März bis 25. April gibt es zu diesem Thema im Berner Kornhausforum eine Ausstellung: «Auf der Suche nach der eigenen Geschichte.» Auf die Beine gestellt wurde der Anlass von der Archivarin Yvonne Pfäffli.