Streitgespräch zu EcopopWie viele Menschen verträgt unser Land?
Mehr Einwohner bedeuten nicht zwingend mehr Umweltprobleme, sagt Bastien Girod. Die Schweiz könne nicht warten, bis die Grünen die Umwelt retten, kontert Andreas Thommen.
Herr Girod, Sie werden bald zum ersten Mal Vater. Herr Thommen, sie haben schon drei Kinder. Wie soll die Schweiz aussehen, in der Ihre Kinder als Erwachsene leben?
Andreas Thommen: Ich wünsche mir für meine Kinder, dass sie noch einen Bezug haben zur Natur. Dass sie ein ökologisches Leben führen und lokale Nahrungsmittel konsumieren können.
Bastien Girod: Das kann ich alles unterschreiben. Was mir zusätzlich aber auch wichtig ist, ist, dass sie in einer Schweiz aufwachsen, die nicht völlig isoliert ist. Dass man einen Austausch mit umliegenden Ländern und eine globale Perspektive hat.
Eine gewichtete Umfrage von 20 Minuten zeigt: Derzeit würden 53 Prozent die Ecopop-Initiative annehmen oder eher annehmen. Eine böse Überraschung für Sie, Bastien Girod?
Girod: Die gute Nachricht ist, dass ich in dem Fall heute Morgen nicht vergebens aufgestanden bin - es gibt offenbar viel zu tun. Nein, im Ernst: Das Resultat ist erschreckend und es braucht noch viel Aufklärungsarbeit.
Thommen: Ich finde es schön, dass sich Bastien Girod offenbar seit Neuestem auch für Aufklärung einsetzt. Bisher verläuft die Diskussion von Seiten der Gegner höchst unsachlich.
Nennen Sie ein Beispiel.
Thommen: Nehmen Sie den jüngsten Vorwurf, dass Ecopop ein Milliardenloch in die AHV reissen würde. Das ist doch absurd! Wer zuwandert, zahlt nicht nur ein, sondern wird unsere Sozialwerke früher oder später auch beanspruchen.
Girod: Die AHV finde ich jetzt auch nicht das stärkste Argument. Wir Grünen und alle anderen grossen Parteien lehnen Ecopop entschieden ab, weil die Initiative schlicht nicht hält, was sie verspricht. Sie löst keine Umweltprobleme, sondern verschärft sie noch. Beispielsweise bezieht sich der Initiativtext nur auf die ständige Wohnbevölkerung. Das heisst, die Leute werden in Zukunft einfach aus dem Ausland in die Schweiz pendeln, um hier zu arbeiten - und so viel Mehrverkehr produzieren.
Thommen: Wir sind uns bewusst, dass wir mit unserer Initiative nicht alle Umweltprobleme lösen …
Girod: … kein einziges lösen Sie!
Thommen: Wir konzentrieren uns aufs Bevölkerungswachstum. Wir sagen: Die Schweiz soll 2050 nicht mehr als neun Millionen Einwohner haben.
Girod: Das nützt der Natur nichts. Es gibt viele Gemeinden, in denen die Einwohnerzahl gleich bleibt und der Flächenverbrauch trotzdem wächst.
Herr Girod, spielt es denn für die Umwelt keine Rolle, wie viele Leute in einem Land wohnen?
Girod: Ich sage: Es spielt keine Rolle, ob in den Städten auf derselben Fläche etwas mehr oder weniger Leute wohnen. Wichtig ist, dass die Grünflächen im Umland geschützt werden. Dafür bietet Ecopop keine Rezepte. Hier hilft nur eine gute Raumplanung und eine Reduktion des Pro-Kopf-Konsums.
Thommen: Dass es weitere Massnahmen braucht, bestreiten wir gar nicht. Aber auch Leute, die in der Stadt wohnen, belasten die Umwelt. Auch sie verpesten die Luft, sie haben einen Arbeitsplatz. Bevor wir uns auf den ökologischen Fussabdruck des Einzelnen konzentrieren können, müssen wir bei der Bevölkerungszahl irgendwann stabil werden.
Girod: Was sie hier machen, ist reine Polemik! Ich weiss nicht, ob Sie ihren eigenen Initiativtext gelesen haben: Im ersten Absatz steht, der Bund müsse eine Einwohnerzahl anstreben, mit der die natürlichen Lebensgrundlagen innerhalb der Schweiz dauerhaft sichergestellt werden können. Im Moment entspricht der ökologische Fussabdruck der Schweiz fünfmal der Fläche der Schweiz. Ich frage Sie: Wie wollen Sie es schaffen, dass wir nur noch so viele Ressourcen brauchen, wie uns zustehen? Wollen Sie die Bevölkerung auf einen Fünftel reduzieren?
Thommen: Natürlich nicht. Nach einer Annahme der Initiative wäre es an der Politik, Massnahmen zu finden, mit denen sich der ökologische Fussabdruck jedes Einzelnen reduzieren lässt.
Girod: Dann braucht es ja die Initiative nicht!
Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat sich im «Tages-Anzeiger» für gemeinschaftliche Wohnformen stark gemacht. Zudem sagte sie, nicht jeder brauche ein Auto. Ist das der richtige Weg, um die Umweltbelastung zu reduzieren?
Girod: Verdichtetes Wohnen ist grundsätzlich zu begrüssen - mit oder ohne Ecopop. Ziel muss es sein, dass Arbeit, Wohnen und Freizeit möglichst nahe zusammen sind. Dann braucht nicht jeder ein Auto - und die Quartiere sind kulturell attraktiv. Es wird aber niemand gezwungen, verdichtet zu wohnen. Schon heute wohnen viele Leute am liebsten in der Stadt, wo die Dichte am höchsten ist, obwohl sie da für eine kleinere Wohnung mehr Miete zahlen als auf dem Land.
Ein Blick in die Online-Kommentare zeigt aber: Gewisse Stimmbürger haben Angst, dass man ihnen Auto und Einfamilienhaus wegnimmt, damit noch mehr Leute einwandern können.
Thommen: So ist es. Man wurstet die Leute in Hochhäusern zusammen, damit noch mehr Zuzüger kommen können. In der Schweiz werden gesichtslose Citys entstehen, in denen die Wohnungspreise explodieren. Wer sich die Mieten nicht leisten kann, wird zwangsläufig aufs Land abgedrängt.
Girod: Das Stimmvolk des Kantons Zürich hat gerade eine Vorlage für mehr preisgünstigen Wohnraum angenommen. So muss man diese Probleme lösen! Der Trick von Ecopop ist, dass Sie verschiedene Probleme nennen und sagen: «Alles Heilbringende ist Ecopop.»
Thommen: Das stimmt nicht. Und wenn ich sehe, dass es in der Schweiz mehr Formel-1-Fans als Grünen-Anhänger gibt, möchte ich nicht darauf warten, bis Sie im Parlament oder an der Urne umweltpolitische Forderungen durchbringen, die die Umwelt entlasten.
Das Bundesamt für Statistik geht in seinem extremsten Szenario davon aus, dass die Schweiz bis im Jahr 2060 über elf Millionen Einwohner haben wird. Wo ist der Punkt, an dem die Zuwanderung nicht mehr durch eine gute Raumplanung kompensiert werden kann?
Girod: Gemeinden und Städte müssen für sich entscheiden, wie dicht sie bauen wollen. Wichtig ist die Lebensqualität: Reine Luft und genügend Erholungsräume. Solange es den Leuten wohl ist, ist Verdichtung kein Problem. Die Grenze liegt dort, wo die Lebensqualität nicht mehr erhöht wird.
Thommen: Man muss sehen, dass das Bundesamt sein höchstes Szenario laufend nach oben korrigiert. Wir steuern also wirklich auf zwölf Millionen zu. Klar könnten wir auch so leben. Aber bei der Natur müssten wir Abstriche machen.
Girod: Nein. Abstriche müssten wir bei unserem Wohlstand machen, wenn ihre Initiative angenommen würde. Dann wäre der Wahnsinn los in der Schweiz! Die Grenzgänger würden die Strassen verstopfen. Und vor allem: Wir würden die bilateralen Beziehungen verlieren. Das wäre eine Katastrophe für Wirtschaft und Forschung.
Bundesrätin Sommaruga bezeichnet die Ecopop-Initiative als «fremdenfeindlich».
Thommen: Das ist eine Unverschämtheit! Wir haben mehr Ausländer als alle Länder in der EU. Es ist überhaupt nicht fremdenfeindlich, wenn wir sagen, wir haben nicht unbeschränkt Platz, um neue Leute anzusiedeln. Es gibt kein Menschenrecht auf Zuwanderung.
Girod: Die Auswirkungen der Initiative sind natürlich fremdenfeindlich …
Thommen: Jetzt hören Sie aber auf mit diesen bösartigen Unterstellungen!
Girod: Sie müssen gar nicht laut werden. Fakt ist: Die Initiative hat fremdenfeindliche Auswirkungen, weil wir die Leute weiterhin zum Arbeiten in die Schweiz holen würden, sie aber wegen Ihrer Initiative nicht hier wohnen dürften. Um die Quote zu erreichen, würde versucht, den Familiennachzug einzuschränken.
Thommen: Was legen Sie mir da wieder in den Mund? In unserer Initiative steht nichts vom Familiennachzug.
Die Resultate unserer Umfrage deuten darauf hin, dass für die meisten Ecopop-Befürworter im Vordergrund steht, dass weniger neue Ausländer ins Land kommen sollen. Einen Stopp der Zersiedelung nannten deutlich weniger Leute.
Thommen: Wir haben nie gegen Ausländer argumentiert. Es ist klar, dass wir auch aus diesen Kreisen Unterstützung bekommen werden. Wir haben das aber nie gesucht. Anliegen von Ecopop ist es, die Lebensgrundlagen in der Schweiz und weltweit für die kommenden Generationen zu erhalten. Und dabei setzen wir beim Faktor Bevölkerung an.
Girod: Für unsere globale Lebensgrundlage spielt es keine Rolle, ob jemand in der Schweiz oder ennet der Grenze Ressourcen braucht.
Bei einer Annahme der Initiative dürfte die Schweiz jährlich noch um knapp 17'000 Personen wachsen. Wer dürfte hinein, wer nicht?
Thommen: Diese Zahl ist netto zu verstehen. Wenn 83'000 Menschen abwandern, könnten pro Jahr immer noch 100'000 Neue kommen. Heute sind es 150'000. Unseren Fachkräftebedarf von rund 23'000 Leuten pro Jahr könnten wir weiterhin decken. Die 3000 Flüchtlinge, die im Schnitt pro Jahr definitiv aufgenommen werden, wären auch kein Problem. Genauso wenig wie die 20'000 ausländischen Ehepartner, die pro Jahr zu ihren Schweizer Partnern ziehen. Dazu kommt auch noch ein jährlicher Geburtenüberschuss von 17'000 …
Girod: Das mit diesen 100'000 Leuten gilt nur, wenn weiterhin Leute auswandern. Wenn niemand mehr auswandert, dürften wirklich nur noch 17'000 Leute kommen - das wäre eine unnötige Beschränkung von Wirtschaft, Forschung und Gesellschaft.
Der zweite Teil der Initiative fordert, dass der Bund mindestens 10 Prozent der Entwicklungshilfe-Gelder zur Förderung der freiwilligen Familienplanung einsetzt.
Girod: Familienplanung ist heute schon Teil der Entwicklungshilfe - wenn das Bedürfnis besteht. Ecopop aber sagt: Egal, was eure Bedürfnisse sind, wir bringen euch Kondome. Oft ist ja nicht das Problem, dass die Leute keinen Zugang zu Verhütungsmitteln haben. Sondern dass sie aus sozialen Gründen Kinder wollen, weil das ihre Altersvorsorge ist.
Thommen: Die vierfache Mutter in Ruanda ist noch so froh, wenn sie nicht noch ein fünftes Kind bekommt. Weltweit gibt es jährlich 80 Millionen ungewollte Schwangerschaften - davon wird die Hälfte in irgendwelchen Hinterhöfen abgetrieben. Diese Leute würden nicht abtreiben, wenn sie unbedingt Kinder als Altersvorsorge bräuchten.
Girod: Das ist doch scheinheilig. Wenn sie helfen wollten, müssten Sie zusätzliche Gelder für die Familienplanung fordern. So aber nehmen Sie Geld von der bestehenden, genauso wichtigen Entwicklungshilfe weg.