Lügen Sie das Volk an, Herr Bundesrat?

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ZuwanderungLügen Sie das Volk an, Herr Bundesrat?

Die SVP wirft dem Bundesrat im Abstimmungskampf zur Masseneinwanderungsinitiative Propaganda und Zahlenschieberei vor. Johann Schneider-Ammann nimmt Stellung.

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S. Hehli/ J. Büchi

Herr Schneider-Ammann, wenige Wochen vor der Masseneinwanderungs-Abstimmung beschliesst der Bundesrat eine härtere Gangart gegen arbeitslose EU-Bürger und Massnahmen gegen die Wohnungsnot – und Sie behaupten ernsthaft, das habe mit der Abstimmung nichts zu tun. Wollen Sie das Volk auf den Arm nehmen?

Nein, wir haben am 15. Mai 2013 den Auftrag bekommen, Empfehlungen im Wohnbereich auszuarbeiten. Da war der Abstimmungstermin noch nicht bestimmt. Nun haben wir diese Empfehlungen in der ersten Bundesratssitzung dieses Jahres präsentiert. Anders gesagt: Wir legen Ergebnisse dann vor, wenn die Zeit reif ist, wenn die Departemente ihre Arbeit gemacht haben – unabhängig von Abstimmungsterminen. Wenn wir mit unseren Lösungsvorschlägen einen Monat vor der Abstimmung kommen, werden wir getadelt. Wären wir einen Monat nach der Abstimmung gekommen, hätte das ebenfalls zu Kritik geführt.

Die SVP und die «Weltwoche» bezichtigen den Bundesrat zahlreicher Falschaussagen. Lügen Sie das Volk in diesem Abstimmungskampf mit zurechtgestutzten Zahlen an?

Nein, ich lüge nicht. Und ich lasse es mir auch nicht unterstellen! Ich muss aber auch sagen, dass ich nicht mehr jede Zeitung lese (lacht). Von dem her weiss ich nicht einmal genau, was man mir vorgeworfen hat.

Wir geben Ihnen gerne ein Beispiel: Sie haben gesagt, die Wohnungsnot hänge nicht primär mit der Zuwanderung, sondern mit dem steigenden Wohnraumbedarf pro Person zusammen. Gemäss den Zahlen des Bundesamtes für Statistik stimmt das so aber nicht. Reden Sie die Folgen der Zuwanderung schön?

Nein. Es gibt in diesem Land grundsätzlich genügend guten, erschwinglichen Wohnraum. Es gibt aber Hotspots in Städten wie Genf, Basel und Zürich, wo der Preisdruck merklich gestiegen ist. Hauptursache dafür sind einerseits demografische und soziale Entwicklingen wie die Zunahme von Einzelhaushalten, aber auch die höheren Ansprüche an Wohnfläche und Komfort. Aber natürlich wird diese Entwicklung durch die Zuwanderung verstärkt: Wenn 70'000 Personen pro Jahr zusätzlich in die Schweiz kommen, braucht es mehr Wohnraum. Und den braucht es auch noch dort, wo der Druck sowieso schon grösser geworden ist.

Bewohner der Schweiz beanspruchen durchschnittlich 45 Quadratmeter Wohnfläche pro Person. Wie viele sind es bei Ihnen?

Ich wohne in einem vernünftigen Einfamilienhaus. Ich habe mir noch nie die Frage gestellt, wie viele Quadratmeter es hat (lacht). Als unsere beiden Kinder noch zuhause lebten, waren es pro Kopf wohl nicht viel mehr als 45 Quadratmeter. Das zeigt vielleicht auch, wie vernünftig oder unvernünftig es ist, diese Zahlen als Mass beizuziehen.

Zurück zu den Vorwürfen an Ihre Adresse: Der Bundesrat betont, die Schweiz profitiere von der Zuwanderung, weil die Wirtschaft gewachsen sei. Die SVP kontert, am Ende des Monats habe der Einzelne nicht viel mehr im Portemonnaie.

Bleiben wir bei den Fakten: Das Bruttoinlandprodukt pro Kopf hat in den letzten zehn Jahren um durchschnittlich 0,9 Prozent zugenommen. In den Jahren 2009 bis 2012, in den Jahren der Wirtschaftskrise und der Frankenstärke, ist es unterdurchschnittlich gewachsen. Aber mit Verlaub: Es gibt Nachbarländer, in denen sich das BIP pro Kopf in diesem Zeitraum rückwärts entwickelt hat. Wir haben kein euphorisches Wachstum, aber ein vernünftiges. Die Personenfreizügigkeit hat dafür gesorgt, dass unser Wohlstand nie abgebrochen ist.

Können Sie denn überhaupt bemessen, inwiefern dieses – moderate – Wachstum der Personenfreizügigkeit zu verdanken ist? Ohne diese wäre die Wirtschaft ja vielleicht stärker gewachsen.

Ich kann es nicht. Und ich will auch nicht spekulieren. Aber es wurden Stellen geschaffen und wir sind praktisch vollbeschäftigt. Also ist die Zuwanderung zu einem guten Stück dafür verantwortlich, dass wir dieses Wohlstandswachstum hatten.

Selbst wenn: Wiegt dieses geringe Wirtschaftswachstum denn die Probleme für den Einzelnen überhaupt auf – etwa das Gedränge im ÖV, die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt oder höhere Mieten?

Die Zuwanderungsinitiative spricht real existierende Probleme an, aber sie ist das falsche Rezept. Natürlich ist es mühsam, wenn man nicht auf dem ersten Platz im Zug absitzen kann. Auch mich stört es, wenn ich mit dem Auto im Stau stehe. Das Schwierige an diesem Dossier ist, dass der Einzelne die Folgen der Zuwanderung als persönlich störend empfinden mag – aber noch viel störender wäre, wenn die Wanderungsbewegung in die andere Richtung ginge und wir Arbeitsplätze verlieren würden. Wenn ich mit den Bürgern spreche, versuche ich, ihnen diese grösseren Zusammenhänge aufzuzeigen. Vielleicht ist ihr Arbeitsplatz genau deshalb sicher, weil Kollegen aus der EU mitgeholfen haben, das Unternehmen in schwierigen Zeiten kompetitiv zu halten.

Der heutige Bundesrat muss auch den Kopf für eine Fehlprognose der Regierung im Jahr 2000 hinhalten: Sie prophezeite damals, dass pro Jahr nur 10'000 Personen netto zuwandern würden. Müssen wir stattdessen mit einer jährlich um 80'000 Menschen wachsenden Bevölkerung leben lernen?

Ich mache bewusst keine Prognosen. In den letzten Jahren ging es der Wirtschaft in der Schweiz so gut und in gewissen EU-Länder so schlecht, dass der Unterschied eklatant wurde – und damit nahm auch die Zuwanderung viel deutlicher zu, als man ursprünglich angenommen hatte. Doch das wird sich korrigieren. Standorte wie Deutschland werden wieder attraktiver und damit sinkt automatisch die Abwanderungslust.

Der Bundesrat steht dauernd wegen Zahlenschiebereien unter Beschuss – riskiert er so nicht, dass das im internationalen Vergleich bisher sehr hohe Vertrauen in die Regierung leidet?

Das Wort Zahlenschieberei lasse ich nicht gelten! Der Bundesrat operiert immer mit Fakten. Ich habe keine Angst, dass wir an Vertrauen einbüssen könnten, wenn wir unserem Prinzip einer sauberen Ordnungspolitik treu bleiben. Auch wenn wir ab und zu Themen anschneiden, die vielleicht nicht so populär sind.

Sie sprechen von Fakten. Inwiefern kann man denn über die Folgen der Zuwanderung objektiv informieren? Anders gefragt: Nutzen nicht sowohl Pro- wie auch Contraseite ganz machiavellistisch nur jene Zahlen, die ihnen gerade in den Kram passen?

Was den Bundesrat und die Verwaltung angeht, benutzen wir stets dieselben Zahlen. Dass diese Zahlen auch anders interpretiert werden, liegt auf der Hand.

Sie geben also zu, dass der Bundesrat die Rolle als quasi neutraler Schiedsrichter gar nicht spielen kann?

Nein, wir haben ein fantastisches System mit einem Bundesrat, der aus sieben Mitgliedern aus fünf Parteien besteht. Wir ringen konstruktiv miteinander um Lösungen. Daraus erwächst – immer basiert auf der Faktenlage – eine austarierte Empfehlung. So gesehen ist der Bundesrat ein Schiedsrichter von Amtes wegen. Für den Bundesrat ist es unzulässig, dass er nur mit den Argumenten der einen oder der anderen Seite antritt.

Aber genau das machen Sie ja: Im Abstimmungskampf um die Zuwanderungsinitiative stehen Sie klar auf der Nein-Seite.

Der Bundesrat insgesamt ist Partei, ja. Er hat dem Parlament empfohlen, die Initiative abzulehnen, und diese Haltung auch begründet. Er setzte sich auch dafür ein, dass es keinen Gegenvorschlag zur Initiative gab. Das Parlament folgte dieser Empfehlung und lehnt die Initiative auch ab. Diesen Entscheid vertritt nun der Bundesrat. Er darf gar keine andere Position vertreten als das Parlament.

Gleich drei Bundesräte weibeln gegen die Zuwanderungsinitiative. Entspricht das noch dem Gebot der Zurückhaltung in Abstimmungskämpfen, das sich die Regierung selber auferlegt hat? Die SVP fordert bereits eine neue Maulkorbinitiative, weil sie das starke Engagement der Regierung ärgert.

Das Volk will doch wissen, was der Bundesrat denkt! Gesetzt den Fall, die Initiative würde angenommen – spätestens wenn sich dann die schädlichen Auswirkungen auf die Beschäftigung zeigen würden, kämen die Vorwürfe: Warum wart ihr nicht sichtbarer, warum habt ihr nicht gekämpft? Indem Simonetta Sommaruga, Didier Burkhalter und ich etwa 30 öffentliche Auftritte haben, nehmen wir nur unsere Verantwortung wahr. Wir stützen uns dabei auf Fakten fern aller Polemik und ohne verzerrte Wahrnehmung.

Das heisst also, die SVP macht nur Polemik?

Nein, sie kämpft für ihre Überzeugungen und Interessen. Das gehört zur politischen Auseinandersetzung.

Wieso wäre eine Annahme der Initiative so schlimm? Würden Parlament und Bundesrat die dann unvermeidlichen Kontingente nicht einfach so hoch ansetzen, dass die Wirtschaft weiterhin beliebig viele Arbeitskräfte bekäme?

Das wäre wider Treu und Glauben. Die Initiative ist ja mit der Absicht entstanden, die Zuwanderung zu beschränken. Da können weder Bundesrat noch Parlament eine Lösung ausarbeiten, die dieser Grundidee widerspricht. Würde die Initiative angenommen, hätten wir augenblicklich eine unsichere Situation. Es gäbe eine negative Reaktion in den Märkten, von einer möglichen Retourkutsche der EU ganz zu schweigen. Die Einführung von Kontingenten wäre sicher schädlich.

Bis 2007 hatten wir auch Kontingente – und die Schweiz ging deswegen nicht unter.

Ich weiss als ehemaliger Unternehmer sehr gut, was ein Kontingentssystem bedeutet – vor allem, wenn es noch mit der Bedingung verknüpft ist, dass man erst einen Ausländer einstellen kann, wenn man keinen Schweizer gefunden hat. Das ist aufwändig, es geht viel Zeit dabei verloren. Unternehmen fragen sich sehr schnell: Können wir mit solchen Auflagen noch wettbewerbsfähig bleiben? Diese Unsicherheiten will ich nicht. Denn Unsicherheiten gefährden Arbeitsplätze.

Erste Umfragen zeigen eine Zustimmung von unter 40 Prozent für die Initiative. Können Sie sich entspannt zurücklehnen?

Ich nehme diese Umfragen zur Kenntnis. Aber diese Schlacht ist erst am Mittag des 9. Februar geschlagen, wenn die Urnen geschlossen sind. Denn ich weiss, wie gut sich das Thema Zuwanderung emotionalisieren lässt. Ich werde mich bis zum letzten Moment mit Nüchternheit und Sachlichkeit dafür einsetzen, dass das Volk diese Initiative ablehnt.

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