«Asylsuchende drehen nicht Däumchen»

Aktualisiert

Chur West, Teil 3«Asylsuchende drehen nicht Däumchen»

Graubünden gilt als Vorzeigekanton in Sachen Asylwesen. Georg Carl, Leiter der Abteilung Asyl und Vollzug im Amt für Polizeiwesen und Zivilrecht, über «echte» Flüchtlinge und abgelegene Ausreisezentren.

D. Pomper
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D. Pomper
Georg Carl, Leiter der Abteilung Asyl und Vollzug im Kanton Graubünden.

Georg Carl, Leiter der Abteilung Asyl und Vollzug im Kanton Graubünden.

Herr Carl, während meines Aufenthalts im Erstaufnahme-Zentrum Foral in Chur ist mir eines aufgefallen: Fast jeder Asylsuchende hat ein Handy.

Georg Carl: Mindestens eines!

Wie geht das mit einem Tagesbudget von 11.70 Franken?

Da müssen wir uns nichts vormachen. Die Leute haben viel Zeit und sind sehr gut vernetzt. Man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass sie den ganzen Tag im Zentrum warten und Däumchen drehen, bis sie ihre 11.70 Franken bekommen. Sie kommen vielfach zu einem Zustupf – sei es auf dem legalen Weg, indem sie etwa einem Landsmann einen Dienst erweisen, beispielsweise die Wohnung putzen. Oder aber eben auch auf dem illegalen Weg. Erst letzte Woche gab es im EAZ Foral wieder eine Razzia. Es findet sich immer wieder Diebesgut.

Wie viele Asylbewerber sind denn nun «echte» Flüchtlinge?

Im letzten Quartal 2012 betrug die Anerkennungsquote in der Schweiz rund 12 Prozent. Diese sank im ersten Quartal dieses Jahres auf knapp 10 Prozent. Daraus ergibt sich, dass wir es zu einem überwiegenden Teil mit Personen zu tun haben, die nicht an Leib und Leben gefährdet sind.

Im Zentrum habe ich mit solchen Menschen gesprochen. Sie sagen, dass sie wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage in ihrem Heimatland keine Zukunft hätten und ihr Glück nun in der Schweiz versuchen wollten. Haben Sie Verständnis für diese Asylsuchenden?

Das ist absolut nachvollziehbar. Das Wohlstandsgefälle ist gewaltig auf dieser Welt. Jeder, der TV schaut und 20 Dollar pro Monat verdient, weiss, dass es noch ein anderes Leben im Wohlstand gibt. Wenn diese Menschen hören, dass hier ab dem ersten Tag die medizinische Versorgung sowie die Unterbringung gewährleistet sind und sie zudem noch mehrere hundert Franken Unterstützungsleistungen pro Monat bekommen ohne jegliche Eigenleistung, dann ist es völlig logisch, dass auch aus rein wirtschaftlichen Überlegungen eine Migration über das Asylverfahren stattfindet.

Der Kanton Graubünden gilt in Sachen Asylwesen als Vorzeigekanton, der die Situation im Griff hat. Was machen Sie als Bündner Asylkoordinator besser als Ihre Kollegen?

Wir waren einer der ersten Kantone, der die elektronische Dossierführung eingeführt hat. Einzelne Kantone müssen nach wie vor auf Papierdossiers zurückgreifen. Ausserdem hat die Bündner Regierung im Rahmen einer Umstrukturierung der Verwaltung per 2006 den Unterbringungs- und Betreuungs- mit dem Verfahrens- und Vollzugsbereich zusammengelegt. Der Asylbereich ist nun eng vernetzt. Zudem ist auch die Rückkehrberatungsstelle beim Migrationsamt angesiedelt und arbeitet eng mit den übrigen Bereichen zusammen. Wenn uns der Bund Asylsuchende zuweist, werden diese zentral erfasst. So können wir auch zügig handeln, wenn ein Asylsuchender abgewiesen wird. Seither ist es auch nicht länger so, dass erwerbslose Asylsuchende in Privatwohnungen leben, sondern diese Personen werden im Erstaufnahme- bzw. in den Transitzentren untergebracht. Dadurch ist die Erwerbsquote spürbar gestiegen. Es ist schliesslich nicht sehr attraktiv, längerfristig in einer Kollektivunterkunft zu leben.

Um die Erwerbstätigkeit zu fördern, haben sie auch ein Gastroprojekt ins Leben gerufen.

Ja, diese sind sehr beliebt und es gibt Wartelisten dafür. Der Kurs dauert drei Monate und gewährt Einblicke in eine professionelle Küche inklusive Service. Es gibt relativ viele schlecht qualifizierte Leute, die sonst nicht so einfach einen Job finden würden. Es gibt die schöne Geschichte eines Tamilen, der als einfacher Tellerwäscher in einem Gastrobetrieb begann. Als der Hilfskoch von einem Tag auf den anderen seinen Job aufgab, sprang er kurzerhand ein, bewies sein Talent und arbeitete sich hoch. Aber es gibt natürlich auch solche, die nicht einen Tag arbeiten wollen und andere Absichten verfolgen.

Der Kanton Zürich hat um die 1500 Fälle von Nothilfebezügern. Der Kanton Graubünden 10 bis 20. Im Verhältnis müsste er 200 bis 300 haben. Wie geht das?

Erstens sind wir wie gesagt bestrebt, rechtskräftig verfügte Wegweisungen effizient und konsequent zu vollziehen. Die rechtskräftig abgewiesenen Asylbewerber werden aus den bisherigen Strukturen ausgewiesen und es wird ihnen auf Ersuchen hin nur noch Nothilfe gewährt, sofern die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Das Ausreisezentrum für Abgewiesene liegt in Valzeina, einer eher abgeschiedenen Ortschaft. Das ist für die betroffenen Personen relativ unattraktiv und die Ausreisebereitschaft wird dadurch gefördert. Es ist nach meiner Beurteilung aber wahrscheinlich auch so, dass unser System für grössere Kantone aufgrund der höheren Zuweisungszahlen nicht optimal wäre.

Menschenrechtsorganisationen haben dieses Zentrum kritisiert.

Die Menschen, die dort leben, beziehen Nothilfe. Es werden keine finanziellen Mittel mehr abgegeben, sondern ausschliesslich Lebensmittel und Hygieneprodukte. Die medizinische Versorgung ist gewährleistet. In Anbetracht der Lebensumstände in einzelnen Herkunftsstaaten geht es diesen Menschen jedoch verhältnismässig gut.

Das Asylwesen wird zunehmend privatisiert und die Zentren werden in die Hände von Dritten gegeben. Wäre das für den Kanton Graubünden nicht auch eine Option?

Der Kanton ist zum Schluss gekommen, dass es sinnvoller und nicht teurer ist, wenn er diese Aufgabe dauerhaft in Eigenregie wahrnimmt. So müssen wir zwar je nach Anzahl Zuweisungen immer wieder neue Zentren eröffnen oder eben schliessen. Dafür kann die Kontinuität im Asylwesen gewahrt werden.

Am Sonntag stimmt die Schweiz über die Asylgesetzrevision ab. Was würde sich für den Kanton Graubünden bei einem Ja konkret ändern?

Wenn es dem Bund tatsächlich gelingen würde, ein Zentrum für renitente Asylsuchende zu realisieren, wäre das eine grosse Erleichterung für uns. Allerdings hat das Parlament Nein gesagt zu geschlossenen Zentren, so dass ich bezweifle, dass die öffentliche Sicherheit tatsächlich verbessert werden kann.

Die Asylgesetzrevision sieht auch vor, dass Wehrdienstverweigerer und Deserteure keinen Flüchtlingsstatus mehr geniessen würden. Würde die Anzahl eritreischer Flüchtlinge bei einem Ja sinken?

Das glaube ich nicht. Eritreische Wehrdienstverweigerer würden zwar allenfalls nicht länger als Flüchtlinge anerkannt. Aber da ihnen die Rückkehr wohl weiterhin nicht zugemutet werden kann, werden sie künftig stattdessen vorläufig aufgenommen. Ein «Ja» würde aber wohl auch bewirken, dass die Schweiz für Eritreer weniger attraktiv wäre. Solch ein Beschluss verbreitet sich in der Community wie ein Lauffeuer. Es käme zu einer gleichmässigeren Verteilung innerhalb Europas. Über Jahre wurde nämlich rund ein Drittel der gesamthaft von eritreischen Staatsangehörigen in Europa eingereichten Asylgesuche in der Schweiz eingereicht.

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen im Asylwesen?

Steigt die Zahl der Asylsuchenden weiter, stellt sich die Frage, wie die Kantone die Unterbringung gewährleisten können. Wenn es dem Bund nicht gelingt, die Kapazität der Bundeszentren von 1500 auf 6000 Plätze aufzustocken, haben wir ein Problem. Dann müssten wir neue Zentren eröffnen, aber der Widerstand in den Gemeinden ist vielfach riesig. Ein weiteres Problem sind die Mehrfachgesuche und die rechtskräftig verfügten Wegweisungen, die nicht vollzogen werden können. So können in der Praxis zwangsweise Rückführungen nach Äthiopien, Algerien, Iran oder Marokko aufgrund der fehlenden Mitwirkung der betreffenden Staaten bisher kaum je realisiert werden. Werden Personen im Rahmen eines rechtstaatlichen Verfahrens weggewiesen, und kann die Schweiz diese Entscheide nicht umsetzen, wird das ganze Asylsystem unglaubwürdig.

Ist die Schweiz auf eine neue Einwanderungswelle vorbereitet?

Wenn monatlich mehrere tausend Asylsuchende in die Schweiz kämen, hätten wir nicht genug Unterbringungsplätze. Wir müssten nötigenfalls Notunterkünfte öffnen, wie dies damals während des Jugoslawienkriegs einzelne Kantone tun mussten. Denkbar wäre eine neue Einwanderungswelle aus Syrien.

Lesen Sie den ersten Teil der Reportage: Das Leben im Asylheim – ein Selbstversuch

Lesen Sie den zweiten Teil der Reportage: Das Portrait einer Asylsuchenden, die keine Soldatin mehr sein wollte.

Asylgesetz-Revision

Die Revision des Asylgesetzes, über die das Volk am 9. Juni entscheidet, soll das System der Gesuchsprüfung effizienter machen, ohne den Kern des Flüchtlingsrechts zu berühren. Die neuen Bestimmungen wurden vom Parlament angesichts der stark steigenden Zahl von Asylgesuchen aus einer grösseren Vorlage herausgelöst. Ende September hatte das Parlament die als dringlich erklärten Teile der Revision definitiv verabschiedet, mit dem Ziel das Asylverfahren zu beschleunigen. Im Zentrum stehen unter anderem Zentren für renitente Asylbewerber. So kann der Bund künftig Asylsuchende in einem besonderen Zentrum unterbringen, wenn sie die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden oder den Betrieb eines Asylzentrums erheblich stören. Mehrere linke Organisationen haben letzten Oktober gegen das revidierte Asylgesetz das Referendum ergriffen. dp

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