«Behinderten-Deutsch» sorgt für rote Köpfe

Aktualisiert

Sprachprojekt«Behinderten-Deutsch» sorgt für rote Köpfe

Mit einer neuen Sprachregelung will die St. Galler Kantonsverwaltung den Behinderten entgegenkommen. Experten stehen dem Projekt jedoch kritisch gegenüber.

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Hier sehen Sie ein paar Beispiele für die «Leichte Sprache». Das Netzwerk Leichte Sprache hat sie in einer Broschüre zusammengestellt.
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Hier sehen Sie ein paar Beispiele für die «Leichte Sprache». Das Netzwerk Leichte Sprache hat sie in einer Broschüre zusammengestellt.

Netzwerk Leichte Sprache

In St. Gallen sollen die Beamten ab sofort nur noch einfache Wörter verwenden. Schachtelsätze und Fremdwörter sind ab sofort tabu. Selbst Zahlen sollen in Zukunft vermieden werden. Anstelle von 14'985 Menschen soll in Amtstexten künftig nur noch von «vielen Menschen» die Rede sein. Und statt 1876 sollen die Beamten künftig «vor langer Zeit» schreiben.

Mit einem 39-seitigen Sprachleitfaden sagt die St. Galler Sozialdepartement dem Behördendeutsch den Kampf an. Einen ersten Bericht hat die Verwaltung bereits übersetzten lassen. Nun sollen weitere Texte auf «Behinderten-Deutsch» veröffentlicht werden.

«Gutgemeinte Idee»

Über die neuen Sprachregeln können sich jedoch nicht alle freuen. SVP-Nationalrat Lukas Reimann begrüsst, dass die Kantone mehr auf Menschen mit Behinderungen eingehen. «An der konkreten Umsetzung habe ich jedoch meine Zweifel.» Dass der Staat in einer verständlichen Sprache kommuniziert, sollte eigentlich selbstverständlich sein. «Eine Sonderlösung wie in St. Gallen halte ich für den falschen Weg», so Reimann.

Auch bei der FDP stossen die St. Galler Sprachpläne auf wenig Gegenliebe. FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen erinnert sich dabei an einen ähnlichen Fall aus dem Kanton Bern: Vor fünf Jahren versuchte die Stadt Bern ihren Bürgern den Fussgängerstreifen madig zu machen. Dieser sei sexistisch, weil er sich explizit nur an Männer richte. Politisch korrekte Berner sollen deshalb den Begriff «Zebrastreifen» verwenden. «Diesen Sprachirrsinn haben die Behörden dann noch in einem Reglement festgehalten», wettert Wasserfallen. Dass der Kanton St. Gallen nun ebenfalls ein Sprach-Regelwerk aus dem Hut zaubere, sei «ein völliger Blödsinn».

Schiessen die St. Galler mit ihrer behindertengerechten Sprache übers Ziel hinaus? «Ja», meint Johannes Wyss, Präsident des Schweizerischen Vereins für die deutsche Sprache. Der oberste Schweizer Sprachhüter warnt vor einer Simplifizierung der Sprache. Eine Vereinfachung der Behördensprache, wie es die Politiker fordern, sei zu begrüssen. «Wird die Sprache jedoch zu sehr vereinfacht, schafft das nur Probleme.» Eine Plansprache für Behinderte sei eine gutgemeinte Idee. «Wenn am Schluss aber nur noch jeder die Hälfte vom Text versteht, ist der Schuss nach hinten losgegangen.»

«Ein wichtiges Signal»

Lob erhalten die St. Galler von CVP-Nationalrat Christian Lohr. Das Pilotprojekt sei «ein wichtiges Signal». Lohr kam als Contergan-geschädigtes Kind ohne Arme und mit missgebildeten, verkürzten Beinen zur Welt. Er ist überzeugt, dass die oftmals geschwurbelte Sprache der Behörden für viele Menschen ein Problem darstellt – eine Meinung, die man auch bei Pro Infirmis teilt. Die Behindertenorganisation begrüsst es, dass der Kanton St. Gallen seine offiziellen Dokumente künftig auch in einer behindertengerechten Version veröffentlichen will.

Einfache Sprache

Da gesetzliche Texte kompliziert formuliert und somit nicht für alle verständlich sind, hat der Kanton St. Gallen als erste Schweizer Verwaltung einen Text in Leichte Sprache übersetzen lassen. Über die Kosten des Projekts ist noch wenig bekannt. Kritiker fürchten jedoch, dass die Übersetzungsarbeit schnell in die Millionen gehen könnte.

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