EGMR-Richterin Keller«Das Volk hat keine absolute Macht»
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte heble Schweizer Recht aus und respektiere Volksentscheide nicht, sagen Kritiker. Die Schweizer EGMR-Richterin Helen Keller nimmt Stellung.
Frau Keller, Sie sind Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Ein Kindheitstraum?
Als Kind schwankte ich zwischen Ärztin und Juristin. Ich wollte Krankheiten verstehen und heilen lernen. Doch dann habe ich meinen sprachlichen Begabungen den Vorrang gegeben. Auch als Juristin wollte ich mich für etwas engagieren, das in der Welt einen Unterschied macht. Das Gebiet der Menschenrechte ist dynamisch. Ich bin täglich mit spannenden, aber auch tragischen Schicksalen konfrontiert.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR steht in der Schweiz zurzeit unter Beschuss. Auch Ihnen als «fremder Richterin» weht ein rauer Wind entgegen…
Die Rechtsprechung wird verzerrt dargestellt. Bei rund 98 Prozent der Fälle, die aus der Schweiz beim Gerichtshof landen, sagt er: Die Schweizer Behörden haben alles richtig gemacht. Nur bei etwa einem Prozent wurden Menschenrechte verletzt. Diese Menschenrechtsverletzungen betreffen in einem Viertel der Fälle die Verfahrensrechte. Nur etwa ein Zehntel der gerügten Fälle betrifft das Ausländerrecht. Und nein, als «fremde Richterin» fühle ich mich nicht, sondern als Schweizerin. Ich «verurteile» auch nicht die Schweiz, sondern schütze die Menschenrechte. Wir sind ein europäisches Gericht und vertreten europäische Werte – Werte, die auch in unserer Bundesverfassung verankert sind.
In der Vergangenheit kam es allerdings immer wieder zu Wertekollisionen. Erst kürzlich hat der EGMR sein Veto gegen die bedingungslose Abschiebung einer afghanischen Familie nach Italien eingelegt. Mit diesem Urteil wurde der Dublin-Vertrag unterminiert. Dieses sieht vor, dass Asylbewerber innert weniger Tage in jenes Land zurückkehren müssen, wo sie ihr erstes Gesuch gestellt haben.
Unser Urteil lautete: Die Schweiz darf die achtköpfige Familie so lange nicht zurückschicken, als sie von den italienischen Behörde nicht die Zusicherung hat, dass die Familie zusammenbleiben kann und die Kinder an einem Ort untergebracht werden, wo sie keinen Schaden nehmen. Das, was wir von der Schweiz verlangen, ist absolut kompatibel mit dem Dublin-Abkommen. Denn es gibt im Dublin-Vertrag eine Souveränitätsklausel. Die Schweizer Behörden haben diese in der Vergangenheit mehrfach angewendet und Ausländer nicht zurückgeschickt. Es gibt menschenrechtliche Grenzen des Dublin-Vertrages. Man kann Menschen nicht einfach hin und her schieben. Sie sind keine Waren.
Dennoch war die Empörung gross, dass die Schweiz ausgerechnet dafür gerügt wird, dass sie sich an einen völkerrechtlichen Vertrag hält. Können Sie diesen Unmut nachvollziehen?
Gerade im Fall der afghanischen Familie glaube ich nicht, dass es einen riesigen Unmut in der Bevölkerung über unser Urteil gegeben hat. Man muss den Leuten die Umstände erklären. Ich möchte die Person sehen, die dann noch sagt: «Also, ich hätte die Familie mit den sechs Kindern zurückgeschickt!»
Für Aufsehen sorgte auch der EGMR-Entscheid vom Frühling 2013. Der Gerichtshof untersagte der Schweiz einen nigerianischen Dealer auszuschaffen, weil er hier vier Kinder hat. Warum ist das Recht auf Familienleben wichtiger als das Recht von Staaten auf öffentliche Sicherheit?
Der Gerichtshof akzeptiert das Recht auf Sicherheit und hat es in sehr vielen Fällen geschützt, indem er Ausweisungen auch aus menschenrechtlicher Sicht nicht kritisiert hat. Aber diese Urteile werden nie erwähnt. Der Fall des Nigerianers K.U. ist speziell. In der Presse wird der Mann als absolut böser Drogendealer dargestellt. Das ist er nicht. K.U. hat sich hier drei Jahre tadellos verhalten. Hätten wir ihn ausgewiesen, dann hätte das für seine Schweizer Kinder bedeutet, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater hätten haben können. Sie können die Kinder ja nicht alle 14 Tage nach Nigeria schicken. Deshalb haben wir in diesem Fall das Recht auf Familienleben höher gewichtet.
Das Urteil birgt innenpolitischen Zündstoff. Die 2010 angenommene Ausschaffungsinitiative besagt, dass straffällige Ausländer ungeachtet der menschenrechtlichen Folgen ausgeschafft werden müssen. Warum ist ein EGMR-Entscheid höher zu gewichten als ein Volksentscheid?
Die Frage ist falsch gestellt. Es gibt nicht etwas, das höher zu gewichten ist. Das Volk entscheidet nicht über den Einzelfall. Eine Initiative oder eine Gesetzesbestimmung kann auf den ersten Blick durchaus Sinn machen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt merkt man, dass sie in einem Einzelfall zu einem stossenden Ergebnis führen würde. Ein Beispiel: Ein Mann, der in einer Fabrik mit Asbest gearbeitet hat, erkrankt zwanzig Jahre später an Lungenkrebs. Da aber die Frist laut Gesetz bereits nach zehn Jahren verjährt ist, kann er nicht mehr klagen. Das ist ungerecht. In dieser Situation ist es die Aufgabe eines Gerichts zu sagen, dass diese Regelung in diesem konkreten Fall keinen Sinn macht. Genau das hat der Gerichtshof im Asbesturteil von diesem Jahr getan.
Auch wenn das dem Entscheid der Schweizer Bevölkerung widerspricht?
Es geht nicht um den Volksentscheid, sondern um ein Urteil in einem Fall. Genauso verhält es sich bei einer Ausschaffung. Am Schluss muss man den Einzelfall anschauen. Und das macht nicht das Volk.
Aber das Schweizer Volk ist laut Bundesverfassung der Souverän des Landes, also die oberste politische Instanz.
In der Bundesverfassung steht auch, dass jedes staatliche Organ sich an die Menschenrechte halten muss. Das Volk hat deshalb keine absolute Macht. Ich mache ein Beispiel: Nehmen wir an, es käme eine Volksinitiative für eine Lynchjustiz bei Sexualstraftätern durch. Dies würde unserer Verfassung widersprechen. Denn jeder hat das Recht auf ein faires Verfahren, in dem er sich verteidigen kann.
Angenommene Initiativen wie die Verwahrungs-, Minarett- oder Ausschaffungsinitiative, die nicht vollständig mit dem Völkerrecht vereinbar sind, sollen Ihrer Meinung nach also nicht zwingend umgesetzt werden?
Ich bin eine grosse Anhängerin des Initiativrechts, aber man darf es nicht verabsolutieren. Es geht nicht, dass man einen Entscheid von Volk und Ständen in die Verfassung reinschreibt und ihn über alles andere stellt. Man muss die Bestimmung anschliessend im System unserer Bundesverfassung und unseres Rechtstaats sehen.
Die SVP, welche die Initiative «Landesrecht vor Völkerrecht» lanciert hat, ist der Meinung, dass das zwingende Völkerrecht ausreicht.
Das tut es nicht. Der grösste Teil der Menschenrechte gehört nicht zum zwingenden Völkerrecht. Zudem ist sich die SVP nicht bewusst, wie wichtig das Völkerrecht im täglichen Leben ist. Folgendes Beispiel: Ein junger Schweizer geht nach Thailand in die Ferien und kifft dort. Nach thailändischem Recht erwarten ihn dort drakonische Strafen. Gilt das Völkerrecht, dann hat er das Recht, das Schweizer Konsulat zu kontaktieren, das ihm einen Dolmetscher und einen Anwalt besorgt. Sollte das Landesrecht bei uns vorgehen, möchte ich nicht in der Haut eines Schweizer Diplomaten stecken, der im Ausland an die internationalen Standards appellieren muss. Die Verbindlichkeit des Völkerrechts ist extrem wichtig. Wir sind ein schwaches Land. Wir können nicht mit Panzern auffahren, um einen Schweizer aus dem Gefängnis zu holen, wenn ihm dort ein unfairer Prozess droht. Wir sind darauf angewiesen, dass das Völkerrecht gilt.
Warum braucht es den EGMR aus Ihrer Sicht sonst noch?
Der Gerichtshof muss die Menschenrechte immer wieder in neuen Situationen und Gefährdungslagen anwenden. Er hat aber auch eine wichtige Aufgabe auf der individuellen Ebene. Ein Beispiel: Eine tschetschenische Mutter vermisst seit Jahren ihren Sohn. Sie vermutet, dass er umgebracht worden ist. Die russischen Behörden sagen ihr über Jahre, sie wüssten nicht, wo er sei und unternehmen nichts. Dann kommt die Mutter zu uns. Der EGMR gibt ihr als erste Instanz nach Jahren Recht und sie erhält 20'000 Euro als Genugtuung. Das macht ihren Sohn zwar nicht lebendig. Aber für die Frau ist dieses Urteil persönlich sehr wichtig.
Gibt es noch ein anderes Schicksal, das Ihnen nahe gegangen ist?
Ein sehr bewegender Fall ist der Fall des Deutsch-Libanesen Khaled El-Masri. Der Mann wurde auf Geheiss der CIA in Mazedonien verhaftet, weil er gleich hiess wie ein Drahtzieher von 9/11. In Afghanistan wurde er vier Monate lang brutal gefoltert, bis die CIA merkte, dass sie den falschen El-Masri erwischt hatte. Nachdem er freigelassen worden war, scheiterte er sowohl bei den mazedonischen als auch bei den amerikanischen Gerichten. Erst der EGMR gab dem Mann Recht.
Wie kommen Sie mit diesen tragischen Schicksalen klar?
Meine Familie gibt mir viel Kraft. Hart ist vor allem, dass der Gerichtshof nicht immer helfen kann. Wir haben viele Fälle aus Russland und aus der Ukraine, in denen Leute einfach die Frist verpasst haben. Die Fälle, die bei uns landen, sind wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs – wenn man bedenkt, dass man nach einem tragischen Verlust auch noch den Mut und die Kraft aufbringen muss, um nach Strassburg zu kommen. Der EGMR ist die wichtigste Menschenrechtsinstitution weltweit. Es wäre verheerend, wenn die Schweiz sie schwächen oder sie sogar verlassen würde.
Kritiker monieren, dass EGMR-Richter ohne demokratische Legitimation einfach neues Recht schaffen würden.
Der Vorwurf ist falsch. Wir sind genauso demokratisch legitimiert wie die Schweizer Bundesrichter. Wir sind gewählt von der parlamentarischen Versammlung, in der auch eine Schweizer Delegation sitzt. Darunter auch viele SVP-Parlamentarier. Wir schaffen kein neues Recht, sondern wenden die Menschenrechte auf konkrete Fälle an.
Schauen wir in die Zukunft. Die Welt wird immer vernetzter. Hat das Landesrecht in dieser globalisierten Welt bald ausgedient?
Ich sehe keinen Bedarf für eine europäische oder internationale Lösung in allen Lebensbereichen. Es ist wichtig, dass das Recht so nahe bei den Leuten bleibt wie möglich. Man soll nur dort vereinheitlichen, wo es wirklich nötig ist.
Sie sind Richterin am EGMR, haben einen Lehrstuhl an der Universität Zürich und haben zwei schulpflichtige Söhne. Wie bringen Sie das alles unter einen Hut?
Mein Mann unterstützt mich sehr. Ich habe eine Perle von Kinderfrau und eine liebe Schwiegermutter. Hätte meine Familie zu meinem Engagement in Strassburg nein gesagt, dann hätte ich das nicht gemacht. Ich versuche, so oft wie möglich mit meiner Familie zusammen zu sein. Erst letzte Woche hat mein jüngerer Sohn, er ist elf, den Gerichtshof besucht. Er hat einen Richter gefragt, warum der Gerichtshof nicht in Zürich stehen könne. Die unterschwellige Frage war natürlich, warum Mama nicht in Zürich arbeiten könne. Aber mein Sohn hinterfragt nicht den Gerichtshof oder meine Arbeit an sich.
Helen Keller (50) ist seit 2011 Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Sie hat an der Universität Zürich Rechtswissenschaften studiert und dissertierte im Umweltrecht. Auf das Doktorat folgten ein LL.M.-Studium in Belgien und Forschungsaufenthalte in Cambridge und Florenz. 2002 habilitierte Keller an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich. Helen Keller ist verheiratet und Mutter von zwei Söhnen (11 und 14). Sie lebt in Strassburg und Zürich.