«Dass Paul alles geplant hat, ist aussergewöhnlich»

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Kinderpsychologe«Dass Paul alles geplant hat, ist aussergewöhnlich»

Paul S. (12) hat seine Flucht angekündigt. Laut Kinderpsychologe Leo Gehrig geht das über einen üblichen Hilfeschrei hinaus. Er ist besorgt.

T. Bircher
von
T. Bircher
Werner C. hat im Jahr 2016 einen 12-Jährigen aus dem Kanton Solothurn nach Düsseldorf in seine Wohnung entführt.
Aus diesem Haus wurde der Bub am 26.. Juni 2016 nachts schliesslich von der Polilzei befreit.
Wie er nach Düsseldorf kam, konnten sich die Ermittler damals nicht erklären.
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Werner C. hat im Jahr 2016 einen 12-Jährigen aus dem Kanton Solothurn nach Düsseldorf in seine Wohnung entführt.

Herr Gehrig, vom 12-jährigen Paul S.* fehlt seit Samstag jede Spur. Sein Verschwinden hatte er mehrere Tage zuvor seinen Mitschülern angekündigt. Ist das normal bei Kindern, die vorhaben, von zu Hause abzuhauen?

Nein, das ist sehr auffällig. Die meisten Kinder, die wegrennen, tun dies aus einer augenblicklichen Verstimmung heraus. Sie sind vielleicht nach einem Streit oder einem Verbot wütend auf die Mutter und verlassen das Haus mit der Drohung: «Ich komme im Fall nie wieder!» Aber sobald es dunkel und kalt wird und der Ärger nachgelassen hat, kriegen sie Heimweh und kehren zurück.

Worauf deutet denn Ihrer Meinung nach diese Ankündigung hin?

Auf grosse Not und Verzweiflung. Schon die Art und Weise ist extrem auffällig und nicht bloss ein übliches Auf-sich-aufmerksam-Machen. Doch dabei ist es dann nicht geblieben. Er hat seine Drohung in die Realität umgesetzt, es war also nicht nur ein Hilfeschrei und auch definitiv keine Kurzschlussreaktion.

Das zeigt auch die Tatsache, dass Paul auf einem Kalender die Tage bis zu seiner Flucht abgehakt hat. Wieso tut ein 12-Jähriger so etwas?

Das ist natürlich schwierig zu beurteilen. Aber ich denke, dieses Abhaken bedeutet, dass er sein Vorhaben lange in seiner Fantasie durchgespielt hat, es war ein Prozess. Er hat irgendwann realisiert, dass es keinen Ausweg aus seiner Situation mehr gibt und seine Aktion vorbereitet. Wenn ein 12-Jähriger so etwas derart lange und genau plant, gibt einem das schon zu denken. Man muss das ernst nehmen.

Ist es denn möglich, dass Paul sich etwas antut?

Möglich ist es, ja. Aber er kann auch etwas ganz anderes im Kopf gehabt haben. Theoretisch könnte es auch sein, dass er sich irgendwo versteckt hält. Dass er aber so lange – fast vier Tage sind es ja mittlerweile – weg bleibt, zeigt aus meiner Sicht, dass er enorm verzweifelt ist.

Haben Sie schon ähnliche Fälle erlebt?

Ich habe schon viele Kinder erlebt, die von zu Hause abgehauen sind. Aber dieser Fall ist wirklich aussergewöhnlich. Ich hoffe inständig, Paul taucht bald wieder auf.

*Name der Redaktion bekannt

Leo Gehrig ist Kinder- und Jugendpsychologe. Er baute die erste Drogenstation für Jugendliche in der Schweiz auf. Er war zudem über 20 Jahre lang leitender klinischer Psychologe am Psychiatrie-Zentrum Hard in Embrach ZH. Seit 1998 hat er eine eigene Praxis.

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