Tanz-Demo in Bern«Es braucht ein Ventil, um Dampf abzulassen»
In Bern haben sich über 10 000 Personen «freigetanzt». Aber weshalb eigentlich? Und gibt es nun jedes Wochenende eine Party-Demo? Ein Kenner der Jugendkultur erklärt.
Herr Nigg*, waren Sie überrascht vom Ausmass der «Tanz-Demo»?
Ja. Letzte Woche - zu diesem Zeitpunkt waren auf Facebook rund 6000 Personen angemeldet - wurde ich nach einer Einschätzung gefragt. Aufgrund der Erfahrung ähnlicher Anlässe ging ich davon aus, dass es letztlich weniger sein werden. Da habe ich mich geirrt. Das perfekte Wetter hat aber natürlich auch einen Einfluss gehabt.
Letzten Sommer haben illegale Grossanlässe in Zürich für Aufregung gesorgt, nun die Berner Party-Demo. Sind wir mit einem neuen Massenphänomen konfrontiert?
Man darf die Anlässe nicht verwechseln. Die Zürcher Behörden wussten gar nicht wirklich, mit wem sie es zu tun hatten. Da steckten keine wirklichen Organisatoren dahinter. Das war in Bern anders: Die Aktivisten aus dem Umfeld der Reithalle kennt man gut, auch Verantwortliche aus der Klubszene waren dabei. Aber selbstverständlich gibt es Parallelen.
Die schnelle und offenbar äusserst effiziente Mobilisierung über soziale Medien?
Ja, aber nicht nur. Die heutige Jugend steht unter einem enormen gesellschaftlichen Druck. Wir haben glücklicherweise keine Massenarbeitslosigkeit wie in Spanien oder Griechenland, aber es muss richtig «gekrampft» werden. Irgendwo braucht es ein Ventil, um diesen Dampf abzulassen. Wenn dieser verstärkte Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung dann mit dem oftmals streng reglementierten Nachtleben kollidiert, reicht dies, um eine Massenbewegung auszulösen.
Also stufen Sie die «Tanz-Demo» als politischen Anlass ein?
Im Gegensatz zu den 68er- und 80er-Bewegungen hat es heute ohne Zweifel mehr Beteiligte, die aus purem Spass an solch einer Demo teilnehmen. Das gilt aber längst nicht für alle. Auch wenn es heute einfacher ist, Leute zu mobilisieren: Die neuen Kommunikationsmittel können eine Bewegung nicht schaffen, sie können sie nur verstärken. Es braucht stets eine Ursache für solch eine massive Teilnahme.
Gibt es bald jedes Wochenende eine Party-Demo?
Gewiss nicht. Aber wenn die Umstände so bleiben, müssen sich unsere Städte darauf einstellen, dass derartige Veranstaltungen in Zukunft vermehrt ins Leben gerufen werden.
Werden die Forderungen der Organisatoren für mehr kulturelle Freiräume von Erfolg gekrönt sein?
Das ist schwierig abzuschätzen. Aber ich kann den Berner Behörden nur raten, gut herauszuhören, wo die Brennpunkte sind. Sonst riskiert man, dass es bei einem nächsten Anlass grössere Probleme als dieses Mal gibt.

Heinz Nigg gilt als intimer Kenner der Schweizer Jugendbewegungen. Neben mehreren Publikationen zum Thema bleibt vor allem sein Kurzfilm «Opernhaus-Krawall 30. Mai 1980» in Erinnerung.