IT-Debakel«Man kauft oftmals die Katze im Sack»
Die SBB haben Millionen für eine mangelhafte Software ausgegeben. IT-Beschaffungsexperte Matthias Stürmer erklärt, wie das passieren konnte.
Herr Stürmer, beim Informatikprojekt-Projekt Sopre der SBB kam es gemäss Recherchen von 20 Minuten zu massiven Verzögerungen, Problemen und Kostenüberschreitungen. Warum enden IT-Projekte immer wieder als Flops?
Das liegt in der Natur der Sache: Anders als beim Bau eines Hauses kann man nicht so einfach nachvollziehen, wie zum Beispiel die Leitungen verlegt wurden. Es handelt sich um sehr komplexe Systeme, die zu verstehen viel fachliches Know-how erfordert. Selbst die Fachleute kennen oft nur einen Ausschnitt, beispielsweise die Abläufe oder die Technik. Dazu kommt, dass die technologische Entwicklung extrem rasant ist. Vor fünf bis zehn Jahren wurden Systeme noch weitgehend anders programmiert als heute.
Heisst das, dass ein System bei seiner Einführung unter Umständen schon veraltet ist, wenn die Lancierung wie im Fall Sopre immer wieder verschoben wird?
Ja, im schlimmsten Fall ist das so. Ich kenne Beispiele, bei denen ein IT-Projekt wegen eines Formfehlers hängen geblieben ist. Als man die Arbeiten fortsetzen konnte, merkte man, dass die neue Software gar nicht mehr gebraucht wird. Generell haben IT-Projekte leider oftmals eine kurze Halbwertszeit. Oft denkt man bei der Planung nur an die heutigen Anforderungen – und nicht an Bedürfnisse von morgen oder übermorgen.
Im Fall der SBB erhielt das «wirtschaftlich günstigste Angebot» den Zuschlag. Steigt damit die Gefahr, auf einen Pfusch reinzufallen?
Das wirtschaftlich günstigste Angebot im Sinne des Beschaffungsrechts ist nicht das billigste, sondern jenes mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis. Die Krux der Sache ist, die Ausschreibung so zu gestalten, dass man das beste Angebot identifizieren kann. Grundsätzlich ist es schon so: Man kauft oftmals die Katze im Sack. Je innovativer eine Softwarelösung ist, desto weniger kann man im Voraus sagen, ob sie funktionieren wird.
Sind Grossprojekte, wie sie die SBB haben, besonders fehleranfällig?
Bei SBB oder Bund sind oft Lösungen gefragt, die es nur einmal braucht in der Schweiz. Dort gibt es einfach keine Standardlösungen, die man aus der Schublade ziehen könnte, wie wenn eine Firma eine neue Website braucht. Das war schon bei Insieme (gescheitertes Informatikprojekt der Eigenössischen Steuerverwaltung mit über 100 Millionen Franken Schaden, Anm. d. Red.) die grosse Herausforderung.
Die Gewerkschaft des Verkehrspersonals spricht von «haarsträubenden» Kostenüberschreitungen – die SBB schweigen sich über die Höhe der Mehrkosten aus. Ab welcher Schwelle ist eine Kostenüberschreitung problematisch?
Wenn ein Projekt 10 oder 20 Prozent mehr kostet, liegt das noch drin, finde ich. Auch bei Bauprojekten fallen nicht selten solche Zusatzkosten an. Was darüber hinausgeht, ist aus meiner Sicht problematisch. Allerdings ist es immer noch besser, ein System kostet 50 Prozent mehr und funktioniert am Ende einwandfrei, als wenn man wie im Fall Insieme 100 Millionen investiert und das Projekt am Schluss beerdigt werden muss.
Wie kann es sein, dass die Verantwortlichen so lange wursteln können, ohne dass jemand Wind von der Sache bekommt? Muss die Politik solche Projekte besser überwachen?
Seit Insieme ist in der Politik bereits viel passiert. Bei den so genannten Informatik-Schlüsselprojekten hat jetzt direkt der Bundesrat die Verantwortung, die Zuständigen müssen an ihn rapportieren. Oft ist ein Informationsdefizit verantwortlich dafür, dass Probleme in der Software-Entwicklung lange nicht Ernst genommen werden. Die Projektleiter haben oftmals Angst, das Projekt nach oben zu eskalieren, und behaupten deshalb möglichst lange, man sei noch im Budget und im Zeitplan. Es braucht viel Erfahrung, um zu wissen, wann man die Karten auf den Tisch legen sollte – und wann man damit nur unnötige Aufregung verursacht.
Kennen Sie die Firma Accenture, die für die Entwicklung der Sopre-Software verantwortlich ist?
Accenture ist eine der grössten internationalen Anbieterinnen für komplexe Softwarelösungen und in der Branche sehr bekannt. Im Alltag solcher Firmen ist es jedoch oft so, dass man viel in die Akquise eines Projekts investiert. Wenn man es dann hat, versucht man, es möglichst günstig durchzuziehen. Da besteht natürlich ein Zielkonflikt: Die SBB erwarten, dass die besten Leute auf dieses Projekt angesetzt werden – und nicht die günstigsten.

Zur Person
Matthias Stürmer ist Leiter der Forschungsstelle für Digitale Nachhaltigkeit am Institut für Wirtschaftsinformatik an der Universität Bern. Er ist auf Fragen der ICT-Beschaffung spezialisiert. Bis 2013 arbeitete er als Manager bei Ernst & Young sowie als Projektleiter beim Schweizer Software-Unternehmen Liip AG. Stürmer ist Geschäftsleiter der Parlamentarischen Gruppe Digitale Nachhaltigkeit.
Andere IT-Debakel
Auch beim Bund kam es in den letzten Jahren immer wieder zu Unregelmässigkeiten und Kostenüberschreitungen bei der Beschaffung von Informatikprojekten. Eine Auswahl:
Insieme: Das Projekt der Eidgenössischen Steuerverwaltung wurde 2012 abgebrochen, der Schaden beläuft sich auf über 100 Millionen Franken.
Heer: 700 Millionen Franken sprach das Parlament vor zehn Jahren für das Führungsinformationssystem der Armee. Allerdings stellte sich heraus, dass das System für den mobilen Einsatz weitgehend nutzlos ist.
ISS: Das Justizdepartement stoppte die Einführung des Abhörsystems 2013. Der finanzielle Schaden wurde auf 18 Millionen Franken beziffert.
Mistra: Statt der ursprünglich veranschlagten 45 Millionen verschlang ein System des Bundesamts für Strassen über 100 Millionen Franken.
ASALneu: Ein 26-Millionen-Projekt zum Auszahlungssystem der Arbeitslosenversicherung musste 2015 vorzeitig abgebrochen werden. Als Grund wurden unter anderem «Umsetzungsschwierigkeiten» genannt. (jbu)