«Manche Mütter zeigen Liebe nur beim Kochen»

Aktualisiert

Übergewichtige Kinder«Manche Mütter zeigen Liebe nur beim Kochen»

Kinder aus sozial schwachen Familien sind immer häufiger übergewichtig. Schon 10-Jährige wiegen 160 Kilo. Ein Experte spricht über die Ursachen.

J. Büchi
von
J. Büchi
Mahlzeit als gemeinsames Erlebnis: Übergewichtige Kinder essen gemeinsam im Zürcher Adipositas Camp in Zweisimmen BE Zmittag.

Mahlzeit als gemeinsames Erlebnis: Übergewichtige Kinder essen gemeinsam im Zürcher Adipositas Camp in Zweisimmen BE Zmittag.

Keystone/Christian Beutler

Herr Bächlin, bei Kindern aus bildungsfernen Schichten wird Übergewicht zu einem immer grösseren Problem. Was läuft da schief?

Wenn ein Kind stark übergewichtig ist, stecken fast immer psychologische oder soziale Probleme dahinter. Die betroffenen Schüler haben beispielsweise Probleme mit den Mitschülern oder werden zuhause schlecht betreut. Meist können sie nicht richtig kommunizieren, sind gestresst. Für sie ist Essen wie ein Medikament, das gegen Angst, Schmerzen und Alleinsein hilft.

Und die Eltern schauen zu? Die «SonntagsZeitung» berichtet von einem Buben, der im Alter von 10 Jahren bereits 160 Kilo wog. Und von Mädchen, die von ihrer Mutter «bis zur Fast-Invalidität überfüttert» wurden.

Keine Mutter will ihr Kind mästen, bis es 160 Kilo wiegt. Meistens passiert das unbewusst – etwa, weil die Eltern etwas kompensieren wollen, das sie ihrem Kind sonst nicht geben können. Ich habe schon Hausbesuche gemacht, da waren alle Schränke mit Guetsli und Schoggi vollgestopft. Offiziell waren die Süssigkeiten für «unerwarteten Besuch» gedacht. Die Eltern liessen es aber zu, dass die Kinder sich nach Belieben bedienten.

Gemäss aktuellen Zahlen der schulärztlichen Dienste ist Übergewicht bei ausländischen Schülern (24%) weiter verbreitet als bei Schweizer Kindern (16%). Warum ist das so?

Man darf nicht verallgemeinern. Die Kinder von hoch qualifizierten Einwanderern sind sogar unterdurchschnittlich selten übergewichtig. Betroffen sind insbesondere Familien, in denen die Frauen aus kulturellen oder religiösen Gründen nicht arbeiten oder eigenen Hobbys nachgehen dürfen. Der einzige Bereich, in dem sie sich engagieren und den Kindern ihre Liebe zeigen können, ist für sie die Küche.

Wie behandelt man ein schwer übergewichtiges Kind?

Es ist ganz entscheidend, dass die Eltern miteinbezogen werden. Manchmal kommen Mütter oder Väter zu mir und sagen: «Machen Sie mein Kind dünn.» Doch man kann ein Kind nicht einfach auf Diät setzen und das wars dann. Nur, wenn man herausfindet, warum ein Kind zu viel isst, und das Problem an der Wurzel anpackt, ist eine wirksame Behandlung möglich. Natürlich gibt es einige Grundregeln: zum Beispiel, dass man gemeinsam isst und sich jeder sein Essen selber schöpft.

Gibt es Lebensmittel, die tabu sind?

Nein, kein Lebensmittel ist verboten. Gewisse Kinder müssen aber lernen, auch Gemüse zu essen. Es ist wichtig, zu wissen, dass das Gehirn eines Kindes schon vor der Geburt auf bestimmte Lebensmittel programmiert wird. Nur, was die Mutter während der Schwangerschaft und während der Stillphase isst, mag das Kind später auch. Das hat biologische Gründe: In der Urzeit wurden die Kinder so darauf programmiert, giftige Pflanzen zu meiden. Babys, die mit dem Schoppen aufgezogen werden, entwickeln sich deshalb oft zu schwierigen Essern, weil sie die verschiedenen Geschmäcker nicht kennen.

Was passiert mit Kindern, bei denen jede Therapie nichts nützt? Ist ein Magenbypass die Lösung?

Solche Operation nimmt man bei unter 16-jährigen Kindern eigentlich nicht vor. In drastischen Fällen, wenn das Gewicht der Kinder immer weiter steigt, kann es sein, dass den Eltern die Obhut entzogen wird und die Kinder fremdplatziert werden. Ich hatte auch schon solche Fälle. Allerdings ist dieses Vorgehen heikel, weil die Kinder so wiederum Stress ausgesetzt werden – was sich negativ auf das Essverhalten auswirkt.

Welche Rolle spielt die Prävention? Weshalb nimmt die Zahl übergewichtiger Kinder trotz aufwendiger Plakatkampagnen nicht ab?

Prävention muss gut gemacht sein, damit sie wirkt. Bilder von breiten Schlitten zu zeigen, wie dies die Gesundheitsförderung Schweiz vor einigen Jahren gemacht hat, zeugt meiner Meinung nach von purer Inkompetenz. Man muss bei der Kommunikation ansetzen und zeigen, dass sich Probleme nicht mit Essen lösen lassen. Ausserdem bin ich der Meinung, dass die Werbung für Kinder besser reguliert werden sollte. Heute schützt man Kinder ja vor allem – aber die Hersteller von Schokolade und Süssigkeiten dürfen sie ungehemmt zum Fressen animieren.

Haben Sie ein stark übergewichtiges Kind oder waren Sie als Jugendlicher selbst betroffen? Erzählen Sie uns Ihre Geschichte und melden Sie sich unter feedback@20minuten.ch.

Kinder reicher Eltern sind dünner

In den Städten Basel, Bern und Zürich ist jeder siebte Kindergärtler zu dick. In der Primarschule ist es jeder fünfte, in der Oberstufe jeder vierte. Das zeigen neue Zahlen der schulärztlichen Dienste, welche die «SonntagsZeitung» veröffentlich hat. Diese Unterschiede nach sozialer ¬Herkunft haben sich laut den Ärzten «auf allen Schulstufen gegenüber dem Vorjahr noch akzentuiert». Das heisst: Kinder aus bildungsfernen Familien sind besonders oft übergewichtig, Schüler aus privilegierten Schichten nur selten. Eindrücklich zeigt dies auch ein Vergleich zwischen den Zürcher Schulreisen Schwamendingen und Zürichberg: In ersterem sind 26,6 Prozent der Schüler übergewichtig, in letzterem nur 8,4 Prozent. (jbu)

Deine Meinung zählt