«So oft es geht, schlafen wir im Zug»

Aktualisiert

Reportage, Teil 2«So oft es geht, schlafen wir im Zug»

Nassi und Abdoul schlafen in abgestellten Zügen oder neben den Geleisen in Mailand. Denn die beiden Flüchtlinge dürfen nicht länger im Asylheim leben.

Romana Kayser
von
Romana Kayser
Die Flüchtlinge Abdoul und Nassi vor «ihrem Hotel» - dem leeren Zug auf dem Abstellgleis vor dem Bahnhof Milano Centrale.
Hier draussen vor dem Bahnhof Milano Centrale verbingen die Flüchtlinge ihre Nächte.
Wenn kein Zug abgestellt oder offen ist, teilen sich Nassi und Abdoul mit dutzenden anderen Flüchtlingen den Betonboden unter diesem kleinen Vordach als Nachtlager.
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Die Flüchtlinge Abdoul und Nassi vor «ihrem Hotel» - dem leeren Zug auf dem Abstellgleis vor dem Bahnhof Milano Centrale.

20Min/rok

«Das ist unser Hotel», sagt Nassi ironisch und zeigt auf den leeren Zug hinter sich auf dem Abstellgleis. Wie viele andere Flüchtlinge schläft er im Bahnhof Milano Centrale. Wann immer möglich verbringen sie die Nacht in den Zügen, die abends hier abgestellt werden. «Dort sind wir vor dem Wetter geschützt und es ist einigermassen warm», sagt Nassi. Die Bahnangestellten liessen manchmal extra die Türen offen, damit die Flüchtlinge im Zug schlafen können.

Nassi kommt aus der Zentralafrikanischen Republik. Der gross gewachsene 34-Jährige ist wegen dem Bürgerkrieg aus der Heimat geflüchtet. Im Januar kam er mit dem Boot auf Sizilien an. Von dort reiste er weiter nach Mailand. Seit kurzem ist er im Besitz einer Aufenthaltsbewilligung. Dennoch ist Nassi frustriert. Als er die Papiere erhalten habe, hätten ihn die Betreiber seines Asylzentrums umgehend vor die Tür gesetzt. «Das war ein Schock», sagt Nassi. Unterstützung kriege er nun keine mehr. «Ich fühle mich von den Behörden alleingelassen.»

«Wenn ich keinen Job finde, reise ich weiter»

Seitdem schläft Nassi auf dem Gelände des Bahnhofs. Manchmal auch in Notschlafstellen, aber dort sei die Zahl der Schlafplätze sehr begrenzt und «man muss sich jeden Abend neu für ein Bett bewerben». Mit den neuen Papieren hat er nun auch eine Arbeitsbewilligung für Italien. Doch Nassi hat keinen Job. Die Frage, ob er sich denn um eine Stelle bemühe, verneint er. Er spreche ja kein Italienisch. Warum er während seines Aufenthalts im Zentrum denn nicht an einem Italienischkurs teilgenommen habe? Die Antwort ist ein Schulterzucken.

So sitzt Nassi Tag für Tag am Bahnhof und wartet darauf, dass etwas passiert. Für ihn ist die Sache klar: «Wenn ich hier in Italien keinen Job finde, dann reise ich weiter in den Norden.» Er sieht dabei die italienischen Behörden in der Pflicht: «Wenn sich Italien um uns kümmern würde, müssten wir nicht im Bahnhof schlafen.»

Karton-Versteck im Gulli

Wenn über Nacht kein Zug abgestellt oder offen gelassen wird, schläft Nassi unter einem kleinen Vordach neben den Gleisen. Jede Nacht drängen sich dort auf dem kalten Betonboden Dutzende obdachlose Flüchtlinge zusammen. Schlafplatz ist knapp. «Manchmal liegen wir fast übereinander, so eng ist es hier», sagt Nassi. Decken haben die Flüchtlinge keine, stattdessen benutzen sie Kartons.

Gleis 24, das hinterste Gleis des Bahnhofs Mailand – von hier gelangt man von der Bahnhofshalle unbemerkt auf die Gleise. Es ist kalt und stinkt nach Urin. Nassi hebt einen Gullideckel an. Darunter kommt ein zusammengefalteter Karton zum Vorschein. «Das ist meine Schlafdecke», sagt er. «Wenn ich die nicht verstecke, wird sie weggeräumt oder von andern Flüchtlingen geklaut.»

Sitzen, schlafen, warten

Wie Nassi schlafen etliche andere Flüchtlinge – vorwiegend alleinstehende Männer aus Afrika – am Hauptbahnhof Mailand. Tagsüber sitzen sie in verstreuten Grüppchen auf dem grossen Platz vor dem Bahnhof. Junge Männer aus Gambia, Senegal, Sierra Leone oder Guinea. Sie reden, schlafen, rauchen, warten. Neben ihnen hasten Mailänder Geschäftsleute vorbei, Touristen lesen in ihren Reiseführern und fotografieren den Bahnhof, Tauben gurren und picken nach Essensresten.

Auch Abdoul ist einer der Flüchtlinge. Der 47-Jährige mit der abgewetzten blauen Daunenjacke kommt aus Mali und lebt bereits seit einigen Wochen auf der Strasse. Seit Februar ist er in Italien. Einen Platz in einem Asylzentrum hat er keinen mehr, sein Vertrag war ausgelaufen. Seither schläft er am Bahnhof.

«Viele rutschen ins Drogenmilieu ab»

Abdoul hofft in Italien auf eine neues Leben. «Ich will hier bleiben und arbeiten», sagt er. Sein Asylgesuch wurde jedoch von den Behörden abgelehnt, Abdoul hat Rekurs eingelegt. Ende Dezember hat er den nächsten Termin auf der Behörde und hofft auf einen positiven Entscheid: «Ohne Papiere vertraut einem hier niemand.»

Abdoul begrüsst zwei Kollegen aus Senegal, die vorbeischlendern. Man kennt sich hier im Bahnhof. «Wir sind wie eine Familie», sagt Abdoul. Die wenigsten, die 20 Minuten auf dem Bahnhofsplatz antrifft, haben bis jetzt eine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Viele am Bahnhof rutschten ins Drogenmillieu ab, erzählt Abdoul. «Niemand will Dealer oder Krimineller werden», sagt er, «aber das Leben hier auf der Strasse macht die Leute zu Kriminellen.»

«Sogar die Tauben haben es besser als wir»

Seine Frau und seine zwei kleinen Töchter hat er bei seiner Flucht in Mali zurückgelassen. Sobald er einen Job und Papiere hat, will er sie nachholen. «Aber auf keinen Fall übers Meer», sagt er bestimmt. Er erzählt von der Überfahrt von Afrika nach Italien. «Auf dem Meer gibt es keinen Gott», sagt Abdoul.

Was er denn erwartet habe von Italien? «Ein ruhiges, schönes Land. Europa halt», sagt Abdoul. Dann sei er aber auf die Welt gekommen. «Wir haben kein Leben hier», stellt er klar, «sogar die Tauben haben es besser als wir.»

Flüchtlings-Reportage Mailand

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte Anfang November entschieden, dass die Schweiz eine achtköpfige afghanische Flüchtlings-Familie nicht ins Erstland Italien zurückschicken darf, solange Italien der Familie keine geeignete und Unterbringung garantiere könne, wo die Kinder keinen Schaden nähmen. Mittlwerweile haben Schweiz und Italien diesbezüglich eine Einigung erzielt. Dennoch: Das UNO-Flüchtlingshilfswerk und verschiedene NGOs beschreiben die Asylunterkünfte in Italien teilweise als Zumutung, vor allem für Familien. Unter welchen Umständen leben Asylbewerber und Flüchtlinge in Italien? 20 Minuten ist für zwei Tage nach Mailand gereist.

Teil 1: «Wir wollen weiter nach Norwegen»

Teil 2: «So oft es geht schlafen wir im Zug»

Teil 3: «Jeder der ein Bett will, kriegt eins»

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