«Solidarität mit Schwachen geschrumpft»

Aktualisiert

So tickt die Schweiz«Solidarität mit Schwachen geschrumpft»

Wie tickt die Schweizer Gesellschaft? Worüber macht sich die Mittelschicht Sorgen und wie sieht die neue Elite aus? Trendforscher Christoph Müller weiss es.

Désirée Pomper
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Désirée Pomper
Schweres Los für Bettler, wie diese Frau in Lausanne: Schweizer zeigen sich mit Schwachen, Alten und Armen zunehmend weniger solidarisch.

Schweres Los für Bettler, wie diese Frau in Lausanne: Schweizer zeigen sich mit Schwachen, Alten und Armen zunehmend weniger solidarisch.

Vor zehn Jahren haben Sie die Schweizer Gesellschaft untersucht. Nun haben Sie die Schweizer Gesellschaft erneut unter die Lupe genommen. Mit welchem Resultat?

Christoph Müller: Die Lebenshaltungskosten, Mieten und Krankenkassenprämien sind gestiegen. Das hat die Schweizer Mittelschicht unter Druck gesetzt: Sie weiss nicht, ob die Renten sicher sind und im Zusammenhang mit der Personenfreizügigkeit erwächst ihr eine neue Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Im Vergleich zur Unterschicht profitiert die Mittelschicht aber nicht oder wenig von staatlichen Unterstützungsleistungen. Viele Leute befürchten, dass sie den materiellen Status ihrer Eltern nicht erreichen werden.

Wie reagiert die Mittelschicht auf diesen Druck?

Die Solidarität mit der Unterschicht und mit den Schwachen der Gesellschaft ist geschrumpft. Man ist nicht mehr vorbehaltlos bereit, Kranke, Alte oder Straftäter finanziell mitzutragen.

Die Globalisierung und die Wirtschaftskrise der letzten Jahre haben uns also asozial gemacht?

Diesen Ausdruck finde ich zu hart und er trifft sicher nicht auf den täglichen persönlichen Umgang zu. Aber man merkt, dass es für einen selber finanziell enger wird. Man überlegt sich zweimal, wie viel Solidarität man in der Gesellschaft will. Es herrscht stärker die Meinung, dass jeder für sich selber verantwortlich sein muss.

Das dürfte sich auch auf das politische Verhalten auswirken.

Ja. Der Ruf nach einer durchgreifenden Hand ist stärker geworden. So fiel die Ausschaffungsinitiative oder die Kampagne gegen Sozialhilfebetrüger auf fruchtbaren Boden. Die Mittelschicht grenzt sich aber nicht nur nach unten ab, sondern auch gegen oben, als Zeichen des Protestes. So erklärt sich auch das Ja zur Abzocker-Initiative. Vor 15 oder 20 Jahren hatte man noch ein weniger kritisches Verhalten gegenüber den Managern. Und die wirtschaftliche Elite gab sich zumindest gegen aussen bescheidener.

Wie reagieren die verschiedenen sozialen Gruppen auf den wachsenden Druck?

Das variiert je nach sozialer Gruppe. Wir haben Menschen zusammengefasst, die sich in Lebensauffassung und Lebensweisen ähneln. Diese Sinus-Milieus könnte man als «Gruppen Gleichgesinnter» bezeichnen. So ist etwa die Gruppe der «Performer» bemüht, denselben Lebensstandard wie die Eltern halten zu können. Sie nehmen diese Herausforderung an, zwar nicht im Sinne begeisternder neuer Möglichkeiten, aber mit ausgeprägtem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Sie sind sich bewusst, dass ihnen letztlich keine andere Wahl bleibt, und so verbinden sie eine hohe Leistungsbereitschaft im Beruf mit einem hedonistischen Freizeitverhalten.

Man gibt sich also mit einem sinnleeren Job zufrieden, solange die Kasse stimmt. Das klingt nach Resignation…

Oder eben pragmatisch. Diese Gruppe versucht weniger als andere, sich im Beruf zu verwirklichen. Ein sicherer Job oder ein guten guter Lohn kann zum Beispiel Abstriche bei anderen Punkten kompensieren. Wegen den Unsicherheiten im Job – etwa durch die stärkere Konkurrenz auf dem Arbeitsplatz - schätzt diese Gruppe Verlässlichkeit im Privatleben. Werte wie Treue und Stabilität werden hochgehalten. Diese Leute sind häufig konservativer als ihre Eltern. Man braucht die vielen Möglichkeiten und den Entscheidungsstress nicht auch noch im Privatleben.

Dann gibt es ja noch das neue Milieu «Digitaler Kosmopoliten». Wer sind diese Leute?

Das sind junge, digital vernetzte Leute, die Trends setzen und auf andere Gruppen ausstrahlen. Es handelt sich um ein sogenanntes Leitmilieu, gerade im Bereich Lifestyle. Das sind starke Individualisten auf der Suche nach Selbstverwirklichung, wobei Geld nicht der primäre Motivationsfaktor ist. Sie wünschen sich eine herausfordernde, kreative und sinnvolle Arbeit. Sie sehen sich mehr als Weltbürger, denn als Bürger eines einzigen Landes. Das hindert sie aber nicht daran, die positiven Errungenschaften der Schweiz selbstbewusst nach draussen zu tragen.

Ist das die neue Elite?

Die «Digitalen Kosmopoliten» sind auf dem Weg dazu, stecken zum Teil noch in der Ausbildung und leben häufig noch bei den Eltern. Aber diese Leute werden in den Führungsetagen landen, was einen grossen Impact haben wird.

Was für einen?

Sie lösen sich vom materiellen Besitz im traditionellen Sinn. Ein Auto ist beispielsweise kein Statussymbol mehr, sondern eher ein Mobilitätsproblem. Darauf wird die Autoindustrie reagieren müssen. Vorstellbar wäre, dass sie nicht länger nur Autos, sondern auch Mobilitätslösungen verkauft. Für dieses Milieu bauen die SBB Wireless-Internet in die Züge ein! Gefordert werden aber auch die Arbeitgeber: Der Arbeitsinhalt muss anspruchsvoll, kreativ und sinnvoll sein. Es wird eine Herausforderung sein, solche Mitarbeiter zu managen.

So tickt die Schweiz

Das Sinus-Institut in Heidelberg und das Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung M.I.S.-Trend in Lausanne und Bern haben das Update 2013 des Gesellschaftsmodells der Sinus-Milieus präsentiert. Untersucht wurden die Auswirkungen von Globalisierung, Digitalisierung und weltweiter Wirtschaftskrise auf die Befindlichkeiten der Schweizer Bevölkerung. Zehn neue Milieus beschreiben ganzheitlich die Schweizer Lebenswelten und Werte von Bürgern und Verbrauchern. Die Milieus beschreiben Menschen, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln.

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