Politologe Milic«Bundesrat kann Volks-Ja nicht ignorieren»
Die Schweiz hielt den Atem an: Das Ja zur Zuwanderungsinitiative fiel extrem knapp aus. Der Zürcher Politologe Thomas Milic über Mobilisierung, Röstigraben und Umsetzung.

Thomas Milic, Politologe an den Unis Zürich und Bern, kommentiert für 20 Minuten den Abstimmungssonntag.
Die SVP hat die Abstimmung gewonnen – hat sie das den Proteststimmenden zu verdanken?
Politologe Thomas Milic: Wohl eher nicht. Denn wahrscheinlich waren sich die meisten Stimmenden dieses Mal bewusst, was auf dem Spiel steht: die Beziehungen zur EU. Offenbar hat die Mehrheit die Vor- und Nachteile der Personenfreizügigkeit abgewogen und kam zum Schluss: Die Nachteile überwiegen. Dieses Votum ist Grund zur Besorgnis für die Regierung. Bei der Minarett-Initiative ging es in erster Linie darum, Dampf abzulassen. Das war heute anders.
Werden Bundesrat und Parlament die Initiative nach dem Willen der SVP umsetzen?
Es gibt schon einen gewissen Handlungsspielraum. So hat die SVP nicht festgeschrieben, wie hoch die Kontingente denn sein sollen. Auf jeden Fall aber kann die Regierung das Votum des Volkes nicht einfach ignorieren: Sie muss die Personenfreizügigkeit neu verhandeln. Und da ist die Unsicherheit naturgemäss sehr gross: Niemand kann heute sagen, wie die heterogenen EU-Mitgliedstaaten auf die Wünsche der Schweiz reagieren werden. Der Kampf um die Umsetzung hat heute schon begonnen.
Die Stimmbeteiligung betrug 56 Prozent – ist das ausserordentlich hoch?
Ja und Nein. Ja, weil sie rund 12 Prozent über der durchschnittlichen Stimmbeteiligung liegt. Nein, wenn man sie mit anderen emotionalen aussenpolitischen Urnengängen der jüngeren Vergangenheit vergleicht. 2005 gab es 54 Prozent bei der ersten Bestätigung der Personenfreizügigkeit, im gleichen Jahr 56 bei Schengen und 2002 gar 58 Prozent beim UNO-Beitritt. Unerreicht ist natürlich die EWR-Abstimmung von 1992 mit 79 Prozent!
Überraschte Sie das deutliche Ständemehr für die Initiative?
Nein, damit musste man rechnen: Wenn das Volksmehr bei einer konservativen Initiative knapp ist, dann ist das Ständemehr so gut wie gesichert. Denn die kleinen Kantone, die letztlich den Ausschlag geben, sind konservativ.
In der Romandie ist die Abstimmung deutlich: Ist der Röstigraben zurück?
Ja, offenbar schon. Es gibt zwar auch innerhalb der Deutschschweiz die Differenzen, die wir zuletzt immer wieder gesehen haben: jene zwischen Stadt und Land. Aber offensichtlich geniesst der bilaterale Weg in der Romandie deutlich mehr Unterstützung als in der Deutschschweiz. Die SVP spielt als Mobilisierungsfaktor im Westen nach wie vor nicht die gleiche Rolle.
Fast 70 Prozent sagen im Tessin Ja zur SVP-Initiative. Wieso?
Der Problemdruck ist höher als in anderen Grenzkantonen. Die hohe Anzahl der Grenzgänger wird als grosses Problem wahrgenommen – auch wenn diese Frage mit der Initiative nicht direkt verknüpft ist. Der Tessin hat schon bei den letzten europapolitischen Abstimmungen sehr migrationskritisch abgestimmt.
Die ersten GFS-Umfragen zeigten einen Ja-Anteil von nur 37 Prozent. Wie kann es sein, dass es heute plötzlich mehr als 50 Prozent sind?
Man darf nicht vergessen: Solche Umfragen sind eine Momentaufnahme, die auch eine Fehlermarge von drei Prozent haben. Und ein Teil der Leute hat mit eher Ja oder eher Nein geantwortet, da ist es immer möglich, dass sie sich umentscheiden.
Was ist mit der Mobilisierung?
Diese war ungewöhnlich hoch – und das half vor allem der SVP. In die Umfragen fliessen nur die Haltungen derjenigen ein, die zu diesem Zeitpunkt angeben, abstimmen zu wollen. Es ist gut möglich, dass die Zahlen für diese Gruppe stimmen – aber nicht für jene, die sich erst spät zu einer Teilnahme entschieden. Diese zweite Gruppe könnte dann den Unterschied ausgemacht haben. Aber was wirklich passiert ist in diesen sechs Wochen, ist derzeit schwierig abzuschätzen.