«Wir haben den besten Service public der Welt»

Aktualisiert

Volksinitiative«Wir haben den besten Service public der Welt»

Bundesrätin Doris Leuthard warnt vor der Pro-Service-public-Initiative. Diese gefährde die Grundversorgung, anstatt sie zu stärken.

D. Pomper
von
D. Pomper
Bundesrätin Doris Leuthard warnt vor der Pro-Service-public-Initiative: «Diese Initiative ist eine Mogelpackung, die den Service public schwächen und ein Loch in die Bundeskasse reissen würde.»
Stattdessen singt Leuthard ein Loblied auf die bestehende Grundversorgung: «Wir haben den besten Service public der Welt. Die Menschen gelangen mit der SBB oder dem Postauto in jedes noch so abgelegene Tal der Schweiz.»
Doch viele Leute seien zu verwöhnt: «Als wir den Taktfahrplan eingeführt haben, war das ein Quantensprung. Plötzlich gab es jede Stunde einen Zug! Heute aber sind die Leute enttäuscht, wenn nicht jede Viertelstunde ein Zug fährt.»
1 / 6

Bundesrätin Doris Leuthard warnt vor der Pro-Service-public-Initiative: «Diese Initiative ist eine Mogelpackung, die den Service public schwächen und ein Loch in die Bundeskasse reissen würde.»

Frau Leuthard, wegen eines verspäteten Zugs sind wir fast zu spät zu diesem Interview erschienen. Wann haben Sie sich zuletzt über einen verspäteten Zug geärgert?

Auch ich ärgere mich über unpünktliche Züge. Oft entstehen die Verspätungen wegen Arbeiten für den Ausbau und den Unterhalt des Schienennetzes. Sie sind nötig, damit noch mehr Linien entstehen, der Taktfahrplan noch enger wird und die bestehenden Strecken gut funktionieren. Aber wir jammern auf hohem Niveau.

Inwiefern?

Wir haben den besten Service public der Welt. Die Menschen gelangen mit der SBB oder dem Postauto in jedes noch so abgelegene Tal der Schweiz. Davon habe ich profitiert, als ich an Auffahrt im Tessin war. Kürzlich besuchte ich in Zürich die Oper. Da fahren die Züge am Bahnhof Stadelhofen noch um ein Uhr morgens. Das wäre vor zehn Jahren unvorstellbar gewesen. Jeder, der im Ausland war, kommt gerne in die Schweiz zurück. Die Züge sind zu 90 Prozent pünktlich, haben also weniger als drei Minuten Verspätung. Die Post wird zuverlässig zugestellt. Und man kann praktisch überall telefonieren oder hat Internet. Der Service wird sich weiter verbessern: Bis 2040 bauen wir das gesamte Bahnnetz nochmals beträchtlich aus.

Dennoch sind breite Teile der Bevölkerung unzufrieden mit dem Service public. Die Tamedia-Umfrage hat gezeigt, dass 59 Prozent die Pro-Service-public-Initiative annehmen würden - obwohl kein einziger Parlamentarier dafür war.

Die Werte haben mich überrascht. Aber wenn man die Menschen fragt, ob sie einen besseren Service public wollen, dann sagt jeder ja. Die Initiative klingt verlockend. Die Initianten gaukeln einen besseren Service zu tieferen Preisen vor. Dabei geht das gar nicht, wenn Unternehmen nicht mehr nach Gewinn streben dürfen, wie es die Initiative vorsieht. Den Parlamentariern war klar, dass die Initiative der Grundversorgung schadet. Wir müssen nun auch den Stimmbürgerinnen und -bürgern aufzeigen, was die negativen Folgen einer Zustimmung zur Initiative wären.

Haben Sie den Unmut in der Bevölkerung nicht auch unterschätzt?

Als wir den Taktfahrplan eingeführt haben, war das ein Quantensprung. Plötzlich gab es jede Stunde einen Zug! Heute aber sind die Leute enttäuscht, wenn nicht jede Viertelstunde ein Zug fährt. Wir sind sehr verwöhnt. Ich verstehe aber auch den Unmut. Doch wegen einer schlechten Erfahrung sollten wir nicht den ganzen Service public schlechtreden. Es gibt kein Land, das seiner Bevölkerung eine solch umfassende Grundversorgung zu diesem Preis bietet.

Die Initianten beklagen einen «schleichenden Dienstleistungsabbau». Die Züge seien unpünktlich, überfüllt und pannenanfällig, die Zugtoiletten oft schmutzig. Die Bahnhöfe seien nicht mehr besetzt. Gleichzeitig würden die Tickets teurer. Tatsächlich haben sich die Billettpreise seit 1990 zum Teil mehr als verdoppelt.

Eines kann ich mit Sicherheit sagen: Mit dieser Initiative werden schmutzige WCs nicht sauberer. Die Toiletten werden täglich geputzt. Aber es gibt Passagiere, die sich nicht zu benehmen wissen. Wir hatten noch nie ein so breites Angebot beim öffentlichen Verkehr wie heute. In der Schweiz gibt es 81'000 Bushaltestellen. Die SBB haben ihr Angebot an Zugkilometern zwischen 2000 und 2013 um fast 50 Prozent erhöht. Dass es morgens in den Zügen an Sitzplätzen fehlt, wissen wir. Deshalb werden die Takte verdichtet. Das geht aber nicht von heute auf morgen. Und diese Verbesserungen führen zu einem Anstieg der Ticketpreise. Dennoch ist der ÖV noch immer wesentlich günstiger als ein Auto.

Die Initianten sind der Meinung, dass die SBB ihre jährlichen Millionengewinne im dreistelligen Bereich in einen besseren Service oder in Preissenkungen investieren sollten.

Dass die SBB Millionengewinne machen, ist falsch. Der Bund subventioniert die SBB zu 50 Prozent – gerade weil wir sozialverträgliche Preise wollen.

Beim Postwesen bemängeln die Initianten den Abbau von Poststellen und Briefkästen. Bei der Post schlossen in 15 Jahren rund 1800 Poststellen. Das ist jede zweite. Dennoch stiegen die Preise auch hier.

Ja, bis vor einigen Jahren war das Netz an Poststellen dichter. Aber wir alle suchen seltener eine Poststelle auf. So wurden in den letzten 15 Jahren in den Poststellen über 60 Prozent weniger Briefe verschickt. Die Leute verschicken heute mehr E-Mails als frankierte Briefe. Zahlungen werden per E-Banking von zu Hause getätigt und immer seltener mit dem gelben Büchlein auf der Post. Daher musste die Post handeln. Ich denke nicht, dass abgelegene Regionen unter dem Poststellenabbau leiden. Dort wurden Agenturen in Läden integriert oder Hauslieferdienste ins Leben gerufen. Vielerorts ist das für die Menschen sogar bequemer. Der Service wird also nicht abgebaut, sondern umgebaut.

Was passiert, wenn die Pro-Service-public-Initiative am 5. Juni angenommen wird?

Entgegen den Versprechen der Initianten würden die Züge nicht pünktlicher, sauberer oder weniger pannenanfällig. Es würden auch keine neuen Poststellen eröffnet und keine Poststelle wegen der Initiative offen gelassen. Im Gegenteil. Diese Initiative ist eine Mogelpackung, die den Service public schwächen und ein Loch in die Bundeskasse reissen würde. Und es würde eine schwierige Diskussion darüber entbrennen, was alles zur Grundversorgung gehört. Nach dem Willen der Initianten soll nämlich das Parlament darüber bestimmen können. Zudem besteht das Risiko, dass auch die Swisscom-Aktien an Wert verlieren würden.

Inwiefern würde der Service public denn geschwächt?

Die Initiative sieht vor, dass Unternehmen nicht nach Gewinn streben dürfen. Was passiert dann? Man lehnt sich zurück und wird mittelmässig. Wir wollen nicht zurück zu den früheren Regiebetrieben, die eher ineffizient waren. Die Unternehmen müssten mit der Initiative aber Vorschriften befolgen, die ihnen schaden würden. Ihre Wettbewerbs- und Investitionsfähigkeit würde gehemmt. Der Bundesrat will aber dynamische Betriebe, welche die Grundversorgung sicherstellen und sich stetig an die Bedürfnisse der Bevölkerung anpassen.

Können Sie ein konkretes Beispiel schildern?

Wir alle wollen ein schnelles Internet oder in abgelegenen Gebieten telefonieren können. Dafür muss man investieren. Aber wie soll die Swisscom das tun, wenn sie keinen Gewinn mehr erwirtschaften dürfte? Entweder müsste der Staat dann finanziell einspringen, was mit einer Steuererhöhung verbunden wäre. Oder aber die Grundversorgung würde schrumpfen. Heute ist 2G in der Grundversorgung garantiert – bis in jede SAC-Hütte. In einem nächsten Schritt wollen wir G4 überall garantieren können. Ich sehe nicht, inwiefern die Initiative diesen Ausbau unterstützen würde. Ein anderes Beispiel aus der SBB: Die Initiative verbietet Quersubventionierungen. Bei der SBB wird der Bereich Infrastruktur jedes Jahr mit ca. 150 Mio. Franken aus dem Bereich Immobilien unterstützt. Wenn dieses Geld fehlt, entsteht ein Loch. Wer stopft das? Nötig wären dafür entweder höhere Billettpreise oder mehr Steuergelder.

Die Initiative wird laut der Tamedia-Umfrage vor allem von SP- und SVP-Wählern unterstützt. Schon bei der Abzocker-Initiative führte diese unheilige Allianz zu einem Sieg. Wird am Ende auch die Pro-Service-public-Initiative angenommen?

Ich hoffe nicht. Die SP-Anhänger müssen sich darüber klar werden, dass die Initiative für die Angestellten schlecht wäre. Sie würden womöglich weniger verdienen, weil die Gesamtarbeitsverträge aufgelöst würden. Bei der SVP herrscht ein Misstrauen gegenüber dem Staat. Offenbar stören sich viele an den Löhnen der Betriebs-Manager.

Die Initiative will, dass die Angestellten der Bundesbetriebe nicht mehr verdienen als die Angestellten in der Bundesverwaltung. SBB-Chef Andreas Meyer verdient mehr als doppelt so viel wie Sie. Macht er seine Arbeit doppelt so gut wie Sie?

Ich hoffe, dass auch ich einen guten Job mache (lacht). Ich mache ihn nicht, um viel Geld zu verdienen, sondern weil ich unser Land mitgestalten möchte. Ein Unternehmer muss seine Firma vorwärtsbringen. Er befindet sich in einem Wettbewerb. Wenn er eine gute Arbeit leistet, habe ich kein Problem mit seinem Lohn. Sollten diese Löhne die Bevölkerung aber tatsächlich massiv stören, könnte man das mit einem Vorstoss im Parlament ändern. Dafür braucht es diese Initiative nicht. Im Übrigen würde die Vorschrift eines Lohndeckels nicht nur die Chefs von SBB, Post und Swisscom treffen, sondern Tausende ihrer Angestellten, wie eine kürzlich publizierte Studie aufzeigte.

Deine Meinung zählt