Leihmutterschaft«Wir wählen Kinder wie ein Konsumgut aus»
Ein Ehepaar lässt sein behindertes Kind bei der Leihmutter. Für Konsum-Psychologe Christian Fichter ist dies ein unmoralischer Auswuchs der Konsumgesellschaft.

Gammys Eltern haben ihn bei der Leihmutter zurückgelassen. Seine gesunde Zwillingsschwester haben sie mitgenommen.
Herr Fichter, kaum hat die Hose ein Loch, werfen wir sie weg. Gibt es Probleme in der Beziehung, beenden wir sie. Nun hat ein australisches Paar sein Kind bei einer Leihmutter zurückgelassen, weil es Trisomie 21 hat. Sind wir in der westlichen Welt nur noch mit dem Besten und Schönsten zufrieden?
Christian Fichter: Die Gesellschaft hat heute enorme Statusängste. Man hat das Gefühl, dass man etwa genau das richtige Auto haben muss, um anerkannt zu sein. Das ist aber auch in anderen Bereichen unseres Lebens der Fall. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, in der uns alle Möglichkeiten offenstehen. Sie verlangt von uns, dass wir immer so wählen, dass wir die beste Option für uns haben. Das gilt bei der Wahl der Freizeitaktivitäten, der Mode und - wie dieser tragische Fall zeigt - sogar für Kinder. Diese sollen ein bestimmtes Aussehen haben und gesund sein. Das sind unmoralische Auswüchse.
Kann man also sagen, dass Kinder heute zu einem Konsumgut werden?
Bei einem Konsumgut verbrauchen wir etwas. Das ist bei einem Kind definitiv nicht der Fall. Aber wir wählen Kinder heute ähnlich wie ein Konsumgut aus. In diesem Zusammenhang gibt es das Phänomen des auffälligen Konsums - Güter, die wir absichtlich zur Schau stellen. Das heisst, Menschen konsumieren Dinge, die auffallen, wie etwa einen roten Ferrari oder eine goldene Rolex. Es kann aber auch die bunte, auffällige, billige Swatch sein. Heute muss offenbar auch das Kind positiv auffallen, etwa blonde Locken haben, Harfe und Geige spielen, Sport machen und intelligent sein.
Wird mit Sterbehilfe-Organisationen wie Exit oder Dignitas sogar der eigene Tod zum Konsumgut?
Auf eine gewisse Art und Weise schon. Sogar der eigene Tod soll heute optimiert werden. Man soll nicht leiden müssen. Es geht so weit, dass, wenn man das Gefühl hat, das Leben sei nicht mehr lebenswert, schaltet man es aus. In umgekehrter Richtung gibt es mit medizinischen Vorsorgeuntersuchungen oder Anti-Aging-Produkten die Möglichkeit, das Alter und den Tod nach hinten zu schieben.
Sind also dem Konsum heute keine Grenzen mehr gesetzt?
Nein, aber die Grenzen werden immer weiter hinausgeschoben. Mit der Kinderselektion, wie sie im Fall Gammy stattgefunden hat, ist die Grenze aber ganz klar überschritten.
Wie hat sich das Konsumverhalten in den letzten Jahren verändert?
Man hat mehr Möglichkeiten und der Konsum ist selbstverständlich geworden. Somit haben viele bereits nach einer Woche keine Freude mehr an dem, was sie konsumiert haben. Wir werden mit Werbung überflutet: Kauf dieses, kauf jenes, es macht dich glücklich. Dort werden wir mit urmenschlichen Mustern zum Konsum angetrieben. Das ist aber nicht nur schlecht. Die Exzesse sind das Problem.
Da wir in unserer westlichen Gesellschaft praktisch alles einfach haben können, haben wir verlernt, für etwas zu kämpfen?
Ich glaube schon, dass die Menschen noch kämpfen können, wenn sie etwas wirklich wollen. Das Problem ist, dass wir heute vielfach nicht mehr wirklich wissen, was wir anstreben sollen. Wir verlangen nach Dingen, die reinem Selbstausdruck dienen, wie etwa ein teures Auto. Nachhaltig glücklich würden uns aber etwa Ausflüge mit dem Partner machen.
Wird es irgendwann wieder eine Gegenbewegung geben?
Es gibt schon heute einen Trend zum bewussten Verzicht auf etwas, obwohl man es eigentlich haben könnte. Ein Beispiel ist auch die Slow-Food-Bewegung für qualitativ hochstehende Lebensmittel. Essen, das man nicht im Stehen oder Gehen, sondern im Sitzen mit Freunden geniesst. Denn das ständige Nachhetzen dieser Vielfalt von Optionen macht uns unglücklich.

Christian Fichter ist Sozial- und Wirtschaftspsychologe an der Kalaidos Fachhochschule.