Ohne Grund im Knast«Unser Leid müssen wir mit ins Grab nehmen»
Ein neues Gesetz soll «administrativ Versorgte» - Menschen, die bis 1981 ohne Begründung ins Gefängnis gesteckt wurden - rehabilitieren. Dies sei auch für zukünftige Generationen wichtig, sagt eine Betroffene.
Verdingt, versorgt, vergessen: Bis 1981 konnten Menschen in der Schweiz ohne Gerichtsurteil oder psychiatrisches Gutachten weggesperrt werden, sei es wegen «Arbeitsscheu», «lasterhaften Lebenswandels» oder «Liederlichkeit». Offiziell brachten die Behörden die meist Jugendlichen zur «Nacherziehung» in Anstalten, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten.
So auch Ursula Biondi. Die mittlerweile 62-Jährige wuchs als Italienerin der vierten Generation in Zürich auf. Als rebellierende Jugendliche vom Vater missverstanden und geschlagen, verliebte sie sich mit 16 Jahren in einen sieben Jahre älteren, geschiedenen Schweizer, riss von Zuhause aus, flüchtete mit ihrem Freund nach Italien und wurde schwanger.
Interpol griff die Jugendliche im Ausland auf und schickte sie in die Schweiz zurück, wo man Biondi – ohne dass sie einen wirklichen Gesetzesbruch begangen hätte - «zum Wohl des ungeborenen Kindes» in die Frauenstrafanstalt Hindelbank einlieferte. Ein Jahr verbrachte die junge Frau mit Mörderinnen als «administrativ Versorgte» im Gefängnis, wo sie ihren Sohn zur Welt brachte.
Frau Biondi, sie wurden 1967 ohne Grund ins Gefängnis gesteckt. Können Sie erzählen, wie das war?
Es war schrecklich. Ich und zahlreiche andere Betroffene hatten nichts in der Hand, um uns zu wehren, wurden in Einzelzellen eingeschlossen und komplett von unserem sozialen Umfeld isoliert. Über die Gründe und Dauer der Haft wurden wir im Ungewissen gelassen. Noch heute höre ich die Schreie der verzweifelten Insassinnen, denen die Kinder nach der Geburt weggenommen wurden. Viele hielten die Ohnmacht nicht aus, fügten sich Verletzungen zu oder erhängten sich in ihrer Zelle. Ich war im achten Monat schwanger, als ich Zeugin wurde, wie der Gefängnisdirektor eine Insassin einfach verbluten liess. Das vergesse ich nie.
Nach einem Jahr wurden Sie aus dem Gefängnis entlassen. Wie ging ihr Leben weiter?
Wie alle Betroffenen wurde ich als «Knaschti» stigmatisiert. Vielen gelang es aus diesem Grund nicht, eine Arbeitsstelle zu finden - sie wurden in die Armut getrieben. Mit viel Glück und dank dem Einsehen meiner Eltern landete ich mit damals 18 Jahren nicht auf der Strasse. Weniger Glück hatten andere Opfer. Teilweise wurde den «administrativ Versorgten» sogar die Waisenrente vorzeitig entzogen, um den Aufenthalt im Gefängnis zu bezahlen - für den Staat waren wir ein lukratives Geschäft.
Morgen steht ein Gesetzesentwurf zur Vernehmlassung, der eine Rehabilitation der «administrativ Versorgten» vorsieht. Was bedeutet dieser Schritt für die Betroffenen?
Eine gesetzliche Rehabilitation würde die Anerkennung liefern, dass die Behörden uns damals Unrecht taten. Das ist nicht nur wichtig für die Opfer, sondern soll auch präventiv als Mahnmal wirken - für zukünftige Generationen. Dieses schwarze Kapitel in der Schweizer Geschichte darf sich nicht wiederholen.
Reicht eine Rehabilitation oder braucht es eine finanzielle Entschädigung?
Die seelischen Verletzungen haben über Generationen hinweg eine zerstörerische Wirkung entfaltet. Die Betroffenen, die nicht daran zerbrochen sind, leben jetzt in sehr ärmlichen Verhältnissen. Für sie muss ein Härtefall-Fonds als unterstützende Massnahme eingerichtet werden. Die Wunden werden trotzdem nicht heilen, unser Leid müssen wir mit ins Grab nehmen.
Die SVP hält die Vernehmlassung für unnötig. Was ist ihre Meinung dazu?
Sie scheinen keinen blassen Dunst von den Verbrechen, die an uns begangen wurden, zu haben. Den «administrativ versorgten» Menschen wurde bisher keine Seite in einem historischen Buch gewidmet. Scheitert der Gesetzesentwurf, werden die Tatsachen weiter unter den Tisch gekehrt.
Was meinen Sie - sollen die Betroffenen finanziell entschädigt werden? Diskutieren Sie mit.