Progressive MoscheeLiberale Muslime wollen «Radikalen Stirn bieten»
Ein Verein plant eine «vernunftorientierte» Moschee, die Frauen und Homosexuellen offensteht. Das Selbstbestimmungsrecht habe oberste Priorität.
«Ich traue mich nicht mehr allein aus dem Haus», sagte Seyran Ates zum «Tagesspiegel». Die türkische Anwältin hat im Juni in Berlin die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee gegründet, die Schiiten, Sunniten, Aleviten, Homosexuellen und Andersgläubigen offen steht. Frauen müssen beim Gebet kein Kopftuch tragen und können als Vorbeterin auftreten. Hunderte Morddrohungen hat Ates in der Zwischenzeit erhalten. Sie steht unter Polizeischutz.
Kritisiert wurde die Moschee auch von türkischen Medien, die Ates unterstellten, die Moschee sei ein vom Gülen-Netzwerk gesteuertes Projekt. Das Bedrohungsszenario hat Auswirkung auf die Besucherzahlen der Moschee. «Es ist Angst, die Leute haben pure, nackte Scheissangst», sagte Ates der «Neuen Zürcher Zeitung». Die Leute würden eingeschüchtert und von ihrem Umfeld unter Druck gesetzt.
«Wir wollen radikalen Strömungen die Stirn bieten»
Nun soll auch in der Schweiz bis Ende Jahr eine fortschrittliche Moschee entstehen. Der Verein «Al-Rahman – mit Vernunft und Hingabe» plant eine «vernunftorientierte, koranzentrierte Moschee». Diese soll allen offenstehen: Sunniten, Schiiten, Frauen und Männern, Hetero- und Homosexuellen, berichtet der «Landbote». Der Verein vertrete «kritisches und vernünftiges Denken» und hat unter anderem zum Ziel, «die Autoritätsgläubigkeit abzubauen und die selbständig denkende Mündigkeit zu fördern», so Kerem Adigüzel, einer der Mitbegründer, zu 20 Minuten. Die Umgangssprache soll Deutsch sein, auch im theologischen Austausch. Ausserdem will der Verein eine soziale Beratungsstelle für Muslime gründen.
Hinter dem Verein steckt eine 15-köpfige Gruppe von 20- bis 40-Jährigen, die sich «Gottergebene» nennen, was die deutsche Übersetzung für Muslim ist. Die Gründungsversammlung findet am Samstag statt. Der Verein finanziert sich über Mitgliederbeiträge und Spenden. Der Verein besteht darauf, unabhängig zu bleiben, und will keiner übergreifenden muslimischen Organisation beitreten.
«Wir wollen radikalen Strömungen die Stirn bieten. Unsere Abmühung auf dem Wege Gottes, deutsch für Dschihad, bedeutet Liebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl und ist koranisch motiviert», sagt Adigüzel. Der Verein orientiere sich ausschliesslich am Koran: «Wir lehnen es ab, Gelehrte und Mittler zwischen Gott und den Menschen zu stellen, auf deren Texte sich viele Konservative berufen», sagt Adigüzel, Sohn türkischer Eltern, der in der Schweiz aufgewachsen ist. Für Adigüzel und seine Mitstreiter spielt das Selbstbestimmungsrecht eine grosse Rolle: «Das gilt sowohl für einen Homosexuellen wie auch für eine Burkaträgerin.» Auch Homosexuelle sollten ohne Angst eine Moschee besuchen dürfen. «Man kann Homosexualität gut finden oder auch nicht – aber wir müssen immer die Menschenwürde respektieren. Wir wollen aufzeigen, wie wir den gottergebenen Glauben im 21. Jahrhundert praktizieren können.»
«Hiesige Muslime sind friedlich»
Adigüzel glaubt, dass gerade bei jungen Muslimen das Interesse sehr gross sein dürfte für die neue Moschee: «Das sind Hipster, Rapper, Arbeiter, Unternehmer, Schönheitsköniginnen oder Akademiker, die friedlich unterwegs sind und für die das heutige religiöse Angebot zu einseitig ist.» Die Diskussionsbereitschaft dieser jungen Leute sei gross, ebenso der Wille, etwas zu verändern.
Angst vor negativen Reaktionen oder gar Todesdrohungen, wie dies nach der Eröffnung der Berliner Moschee der Fall war, hat Adigüzel, Offizier der Schweizer Armee, keine: «Die hiesigen Muslime sind friedlich, so wie es die Gottergebenheit (deutsch für Islam) vorsieht. In der Schweiz haben wir eine offene, friedliche Diskussionskultur, auch mit Vertretern des traditionellen Islam.»
Suche nach Liegenschaft
Der neue Verein sucht für die fortschrittliche Moschee eine Liegenschaft. Die Suche gestaltet sich laut dem «Landboten» allerdings schwierig. Der Verein hat seit Anfang Juni ein Dutzend Bewerbungen verschickt und nur Absagen kassiert, berichtete das Online-Portal «Watson». Inzwischen aber hat ein Immobilienbesitzer im Raum Aarau dem Verein ein attraktives Angebot unterbreitet, wie Mitbegründer Kerem Adigüzel bestätigt.