ErnährungstrendKeine Lust zu kochen – Schweizer essen flüssig
Kochen war gestern: Bequeme oder gestresste Leute ernähren sich immer häufiger mit Flüssignahrung, insbesondere die Schweizer.
Beutel aufreissen, Inhalt mit Wasser anrühren und runter damit. Die Ernährung mit Flüssignahrung boomt. «Ich habe nie gern gekocht. Dass ich das als Arbeit empfunden habe – und das Drumherum auch: einkaufen, aufbewahren, drüber nachdenken –, hat dazu beigetragen, dass ich jetzt Ernährung von Essen trenne», erzählt ein Konsument von sogenanntem Liquid Food in einem Internetforum. Wenn er heute essen gehe, dann aus sozialen Gründen oder Appetit.
Ursprünglich wurde Flüssignahrung für die Raumfahrt entwickelt, vor einigen Jahren entdeckten sie gestresste Programmierer aus dem Silicon Valley für sich. Die Pülverchen verschiedener europäischer Hersteller werden laut NZZ Campus seit kurzem auch in die Schweiz geliefert. Produkte wie Joylent, Queal, Huel, Compleat, Mana, Ambronite oder Jake: Sie alle versprechen für zwei bis vier Franken pro Portion ein Leben ohne mühsames Kochen – und eine Versorgung des Körpers mit allen Nährstoffen, die er braucht. Mit den Worten des Compleat-Herstellers Nu3: «Von diesem ‹Smart Food› kann man sich wochenlang ohne Mangelerscheinungen ernähren – theoretisch.»
Geschäftsmänner, Studenten und Mütter essen flüssig
Die aus verschiedenen pflanzlichen Nahrungsmitteln zusammengesetzten und mit Wasser angerührten Produkte werden laut dem CEO des niederländischen Herstellers Queal, Floris Wolswijk, immer populärer. Seit Verkaufsstart vor zwei Jahren seien eine Million Portionen im europäischen Raum verkauft worden. In der Schweiz hätten sich die Verkaufszahlen seit einem Jahr gar verdoppelt, genaue Zahlen will er allerdings nicht nennen. Auch die anderen Anbieter bestätigen: Im Verhältnis zur relativ kleinen Wohnbevölkerung verkaufe man hier besonders viel Pulvernahrung. Möglicherweise aufgrund des hohen Bildungsniveaus und Lebenstandards, heisst es seitens des Jake-Herstellers.
Ursprünglich hätten sie es auf beschäftigte Geschäftsmänner abgezielt gehabt, sagt Hersteller Huel. Seitdem habe sich ihre Käuferschaft aber massiv erweitert: «Studenten, Sportler, Mütter, Pensionierte, Backpacker, Militärs und Festivalgänger – es scheint, als ob es keine Gruppe gäbe, die nicht auch auf Flüssignahrung zurückgreift.» Der typische Kunde habe kein Kochtalent, wolle aber trotzdem optimal mit allen Nährstoffen versorgt sein.
«Das hat nichts mehr mit Esskultur zu tun»
Auch die diplomierte Ernährungsberaterin Sonja Ricke stellt fest, dass immer häufiger auf Flüssignahrung zurückgegriffen wird: «Vor allem junge Leute finden es cool, wenn sie keine Zeit mehr fürs Essen verlieren müssen.» Sie selbst würde zwar zur Ernährung nicht auf Pülverchen zurückgreifen wollen, finde das aber nicht grundsätzlich bedenklich. Allerdings, sagt Ricke, könne sie sich gut vorstellen, dass die Menschen in hundert Jahren vor lauter Leistungsdruck und Zeitmangel nur noch am Wochenende kochen würden. «Wir befinden uns in einer Zeit der Technisierung der Ernährung. Weg von natürlicher Kost, hin zu verarbeiteten Lebensmitteln.»
Bei der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährungsfragen (SGE) betrachtet man den Trend zu den Fertigmahlzeiten äusserst kritisch: «Essen nicht mehr wahrzunehmen, sondern nur noch gemixt schnell runterzuschlucken, hat nichts mehr mit Esskultur zu tun.» Wolle sich zudem jemand zu hundert Prozent von solchen Produkten ernähren, sollte die Nährstoffbilanz genau betrachtet werden, sagt Sprecherin Steffi Schlüchter. Seitens der SGE plädiert man ausserdem vehement für die Einhaltung von Pausen bei der Einnahme von Mahlzeiten. Sie wären, zum Beispiel über Mittag, auch sozial betrachtet bedeutend.
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Alle nötigen Nährstoffe in einem Shake? So wirbt Hersteller Joylent in einem Video für seine Pulvernahrung.