Wer ist «lo svizzero»?

Aktualisiert

'Ndrangheta im ThurgauWer ist «lo svizzero»?

Der Chef der 'Ndrangheta in der Schweiz hat einen der höchsten Grade der kalabrischen Mafia-Organisation inne. Seinen Namen kennen die Behörden jedoch bis heute nicht.

von
Ronny Nicolussi
Gemäss italienischer Staatsanwaltschaft auch in der Ostschweiz aktiv: 'Ndrangheta

Gemäss italienischer Staatsanwaltschaft auch in der Ostschweiz aktiv: 'Ndrangheta

Im Bericht der Staatsanwaltschaft von Reggio Calabria steht es schwarz auf weiss: «In den Städten Zürich und Frauenfeld oder auch in deren Agglomerationen ist eine 'Ndrangheta-Struktur aktiv mit verschiedenen Personen kalabrischer Herkunft.» Diesen Schluss zieht die Staatsanwaltschaft nach minutiöser Überwachung von Gesprächen des im vergangenen Juli verhafteten 'Ndrangheta-Anführers Domenico Oppedisano und dem ebenfalls verhafteten Bruno Nesci, der laut Behörden im süddeutschen Singen eine 'Ndrangheta-Zelle führte.

Auf die Schweiz zu sprechen kam Nesci, weil es offenbar zu Spannungen wegen Gebietszuständigkeiten zwischen ihm und einer «anderen in der Schweiz existierenden Gruppe» kam. Der Kopf dieser Gruppe ist den italienischen Strafverfolgungsbehörden bis dato unbekannt. Sie gehen einzig davon aus, dass es sich um einen Kalabresen handeln muss. In den abgehörten Gesprächen wird er als «lo svizzero» (der Schweizer) oder «quel cornuto della Svizzera» (dieser Gehörnte aus der Schweiz) oder aber auch als «la montagna della Svizzera» (der Berg der Schweiz) bezeichnet. Letztere Bezeichnung deutet laut Staatsanwaltschaft daraufhin, dass es sich bei dieser Person um jemanden handeln muss, der einen der höchsten 'Ndrangheta-Grade – den sogenannten vangelo (Evangelium) – inne hat.

Die Schweizer Behörden reagierten derweil überrascht über diese Information. Der Kommandant der Kantonspolizei Thurgau und dessen direkter Vorgesetzter, Regierungsrat Claudius Graf-Schelling, Vorsteher des Thurgauer Justiz- und Sicherheitsdepartements, wollten sich zum Fall nicht äussern. Die Polizei hielt lediglich fest: «Bisher sind im Kanton Thurgau keine erkennbaren mafiösen Strukturen in Erscheinung getreten. Im Übrigen muss ein allfälliger Wohnort nicht immer identisch mit einem allfälligen Tätigkeitsfeld sein.» Die Kantonspolizei Zürich verwies für weitere Informationen an die Bundesanwaltschaft. Diese sah sich auf Anfrage jedoch nicht in der Lage, die jüngsten 'Ndrangheta-Aktionen in Italien zu kommentieren. «Ausserdem pflegen wir generell nicht, Statements zu offenbar ‹zugespielten› (ausländischen) Ermittlungsunterlagen abzugeben», hiess es schriftlich auf Anfrage.

Italiener und Deutsche wussten es, nur die Schweizer Ermittler nicht

Es scheint, als seien die Schweizer Ermittler die einzigen, die nichts von der 'Ndrangheta im Thurgau wussten. Denn dass es in der Schweiz ein «'Ndrangheta-Lokal» gibt, gehe auch eindeutig aus den Ermittlungen der deutschen Polizei hervor, heisst es im Bericht der Italiener, der 20 Minuten Online vorliegt. Mit Lokal bezeichnet die kalabrische Mafia-Organisation einerseits den Ort, wo sich die 'Ndranghetisti treffen, und andererseits die lokalen 'Ndrangheta-Zellen, die aus mindestens 50 Leute bestehen müssen. Aus einem Dialog zweier mutmasslicher 'Ndrangheta-Mitglieder in Singen, der den Konflikt zischen der 'Ndrangheta in Deutschland und in der Schweiz belegen soll, wird wie folgt zitiert:

S.: «Also, die in der Schweiz, das Lokal in der Schweiz ist…»

F.: «Frauenfeld!»

S.: «Ah, Frauenfeld. Sie haben sich dort eingerichtet, wo wir auch sind.»

F.: «Ah… ja, mir scheint, dass…»

Mit Frauenfeld könnte allerdings auch eine kleine Gemeinde in der Umgebung von Frauenfeld gemeint sein. Dort wohnen zwei von vier Männern, die am 18. August 2009, exakt um 15.34 Uhr, Teil des 'Ndrangheta-Puzzles wurden. Zusammen mit einem in Frauenfeld geborenen Italiener und einem älterern Herrn aus Italien fuhren sie damals mit ihrem Kia mit Thurgauer-Kennzeichen auf das von der Polizei überwachte Gelände des 'Ndrangheta-Anführers Domenico Oppedisano vor. Laut Staatsanwaltschaft lässt das Überwachungsvideo keine Zweifel offen. Die vier Männer erhielten in der Zitrusplantage Oppedisanos während eines esoterischen Ritus eine Funktion in der 'Ndrangheta.

«Ein ganz normales, älteres Pärchen»

Eine Nachbarin der beiden Männer aus dem Thurgauer Dorf, die nicht näher genannt werden möchte, kann nicht glauben, dass die beiden etwas mit einer kriminellen Organisation zu tun haben sollen: «Sie sind immer sehr freundlich und ich habe noch nie etwas Schlimmes von denen gehört.» Sie wohne seit acht Jahren im selben Haus wie die Familie, der offenbar beide Männer angehören. Probleme habe es niemals gegeben. Eine andere Nachbarin will sich nicht über die Familie äussern, sagt aber auch, sie habe nie etwas Negatives festgestellt. Und eine dritte Nachbarin meint: «Die Familie ist sehr nett. Das ist ein ganz normales, älteres Pärchen – nichts Auffälliges.» Die Frau sei etwas schüchtern, aber wie der Mann und der Sohn würde auch sie immer freundlich grüssen.

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