Klage-Welle«Pflegesklavinnen» schuften für 1500 Franken
Care-Migrantinnen aus Osteuropa arbeiten 24 Stunden pro Tag in Schweizer Haushalten – oft für einen Hungerlohn. Jetzt wehren sie sich.
Arbeitsort: Schweiz. Lohn: Umgerechnet rund 1500 Franken pro Monat, bei «sehr guten Deutschkenntnissen». Aufgabe: Betreuung einer 43-jährigen Frau mit multipler Sklerose, die im Rollstuhl sitzt und an Blasenschwäche leidet. «Die Patientin braucht Hilfe beim Baden, Anziehen und bei der Hausarbeit. Das heisst Putzen, Bügeln, Kochen.» Diese Angaben stammen aus einem Stelleninserat auf einem polnischen Job-Portal.
Immer mehr Migrantinnen, vor allem aus Osteuropa, folgen solchen Angeboten. Sie ziehen ins Haus ihrer Auftraggeber, um sie rund um die Uhr zu umsorgen. Schon vor vier Jahren stellte der Bund in einem Bericht fest, dass in der Schweiz immer mehr 24-Stunden-Kräfte aus der EU arbeiten. Die zuständige Arbeitsgruppe warnte vor mangelndem Schutz der Betreuerinnen, da das Arbeitsgesetz in privaten Haushalten nicht gelte. Der Bundesrat arbeitet derzeit an einem Lösungsvorschlag.
Sieben Tage pro Woche im Einsatz
Wie Recherchen von 20 Minuten zeigen, wehren sich die betroffenen Frauen aber auch immer öfter auf eigene Faust. So sind etwa in Solothurn drei Klagen von Polinnen hängig, die gegen ihre ehemaligen Arbeitgeber vorgehen. Sie verlangen Lohnnachzahlungen von mehreren zehntausend Franken. Unterstützt werden sie dabei vom Netzwerk Respekt der Gewerkschaft VPOD. Gewerkschaftssekretärin Marianne Meyer bestätigt, sie habe allein im Moment rund 20 Dossiers von Migrantinnen auf dem Pult, die um Lohnnachzahlungen kämpften.
«Diese Frauen arbeiten oft sieben Tage pro Woche, sie haben praktisch keine Freizeit», so Meyer. Auch wenn im Vertrag stehe, dass die Arbeitszeit bis 19 Uhr dauere, müssten die Frauen den ganzen Abend und die ganze Nacht einsatzbereit sein, falls die Hausherrin etwa auf die Toilette muss. Die Arbeit sei physisch und psychisch sehr belastend. Als «Pflegesklavinnen» bezeichnet die «Zeit» solche Frauen, von denen es auch in Deutschland unzählige gibt. Genaue Zahlen sind für beide Länder nicht verfügbar.
Dubiose Firmen
Der Bund schreibt für ungelernte Pflegerinnen in Privathaushalten einen Mindeststundenlohn von 18.55 Franken vor. Die Firmen, die Care-Migrantinnen vermitteln, brauchen neben einer kantonalen auch eine eidgenössische Bewilligung. Beim Staatssekretariat für Wirtschaft heisst es, die Zahl der Firmen mit Bewilligung belaufe sich schätzungsweise auf 70 bis 130.
Laut Meyer gibt es aber auch viele dubiose Vermittlungsfirmen, die ohne Bewilligung arbeiten und den Frauen Hungerlöhne zwischen 1500 und 3000 Franken zahlen. «Und dann gibt es auch viele Frauen, die schwarzarbeiten und sich folglich gar nicht auf einen Vertrag stützen können.» Eine Firma, die in der Schweiz mit einer 24-Stunden-Betreuung ab 1990 Franken im Monat wirbt, ist beispielsweise Get Care. Die Verantwortlichen wollten auf Anfrage keine Stellung nehmen.
«10'000 Franken wären angemessen»
Doch selbst legale Firmen zahlten den Stundenlohn oft nur für die Zeit, in der die Frauen laut Arbeitsvertrag im Einsatz stehen, sagt Meyer. Vor knapp zwei Jahren beurteilte das Basler Zivilgericht zum ersten Mal einen solchen Fall einer 24-Stunden-Kraft. In einem Präzedenzurteil kam es zum Schluss, dass die Polin auch für ihre reine Präsenzzeit zu einem reduzierten Stundenlohn hätte entschädigt werden müssen. «Für eine Betreuung rund um die Uhr durch eine oder mehrere Personen belaufen sich die geschuldeten Monatslöhne auf zwischen 8000 und 10'000 Franken», so Meyer.
Kurt Omlin, Geschäftsführer der Firma Pflegehilfe Schweiz, sagt: «Diese Forderungen sind eine Frechheit – bei solch exorbitanten Löhnen wäre eine Pflegerin ja teurer als ein Pflegeheim.» Zwar stimme es, dass illegale Pflegerinnen in der Schweiz regelrecht ausgebeutet würden und meist über die gesetzlichen Arbeitszeiten arbeiten. Er habe in Eigenregie eine Inserate-Kampagne gestartet, um auf die «schwarzen Schafe in der Branche» aufmerksam zu machen. «Hier müssen Gewerkschaften und Politik ansetzen – und nicht bei sauber und legal arbeitenden Schweizer Unternehmen.»
Den Grund, warum sich Care-Migrantinnen immer grösserer Beliebtheit erfreuen, sehen Experten im Wandel der Gesellschaft. So hätten Familienmitglieder immer weniger Zeit, ihre alten und kranken Angehörigen zu pflegen. Die Eltern in einem Pflegeheim zu platzieren komme jedoch für viele Leute nicht mehr infrage.