«Beschnittenes Mädchen zeigt kaum die Eltern an»

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Mahnwache Genitalbeschneidung«Beschnittenes Mädchen zeigt kaum die Eltern an»

Genitalverstümmelungen werden auch in der Schweiz vorgenommen. Zwei Projektleiterinnen erzählen von der Schwierigkeit, sie einzudämmen.

von
T. Bircher
Laut dem Bund sind rund 15'000 Mädchen und Frauen in der Schweiz von Genitalverstümmelung gefährdet oder betroffen.

Laut dem Bund sind rund 15'000 Mädchen und Frauen in der Schweiz von Genitalverstümmelung gefährdet oder betroffen.

Kein Anbieter/Keystone/Ulrike Kotermann

15'000 Frauen sind in der Schweiz laut Schätzungen des Bundes von Genitalverstümmelungen betroffen oder davon gefährdet – und zwar seit 2013. Wieso gelingt es nicht, diese Zahl zu reduzieren?

Marisa Birri: Diese 15'000 sind eine grobe Schätzung, das wirkliche Ausmass ist unbekannt. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Genitalverstümmelungen im Verborgenen geschehen. Zum anderen passiert es meist innerhalb der Familie. Ein Mädchen müsste also beispielsweise seine eigenen Eltern anzeigen – das tut es kaum. Dazu kommt, dass Mädchen oft in einem Alter beschnitten werden, in dem sie gar noch nicht verstehen, was man ihnen antut.

Sie meinen, keine Dreijährige geht zur Polizei und sagt: ‹Meine Tante hat mir die Klitoris und die Schamlippen entfernt›?

Genau. Ein weiterer Grund ist auch, dass Fachpersonen nicht reagieren. So kann es vorkommen, dass beispielsweise Kinderärzte zwar realisieren, dass ihre Patientin Opfer einer Genitalverstümmelung wurde, sie aber trotzdem nichts dagegen unternehmen.

Sind Ärzte nicht ohnehin an ihre Schweigepflicht gebunden?

Nadia Bisang: Das kommt darauf an. Genitalverstümmelung gilt in der Schweiz als Offizialdelikt. Wenn ein Arzt also eine Gefährdung vermutet, sollte er handeln. Ich glaube, viele Ärzte denken einfach: ‹Das ist nicht mein Problem›. Andere sind mit ihrer Aufgabe überfordert, wissen nicht, ob und wie sie das Thema ansprechen sollen. Ein grosses Problem liegt hierzulande darin, dass sich niemand verantwortlich fühlt.

Was heisst das konkret?

Nadia Bisang: Angenommen, eine somalische Familie kommt in die Schweiz. In diesem Fall wissen wir nicht, ob sie überhaupt darüber informiert wird, dass Genitalverstümmelung hierzulande verboten ist. Oder ob ihnen bewusst ist, dass es an Spitälern mittlerweile geschultes Fachpersonal dafür gibt. Wenn sie Glück haben, geraten sie an jemanden, der sie aus Eigeninitiative heraus informiert. Doch das punktuelle Engagement von Sozialarbeitern, Gemeinden oder Kantonen reicht einfach nicht aus.

In gewissen Gemeinschaften gilt eine unbeschnittene Frau als unvollkommen, unrein und unästhetisch. Sie läuft Gefahr, nicht verheiratet oder sogar aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Wie handhabt man dieses Problem in der Schweiz?

Marisa Birri: Vor allem durch Aufklärung. Zum Glück gibt es bereits Frauen und Männer aus betroffenen Gemeinschaften, die sich offen gegen die Genitalverstümmelung aussprechen und ihren Landsleuten ins Gewissen reden, also das Tabu brechen. Das ist essentiell, denn sehr oft gehört es sich nicht, darüber zu sprechen. Zudem erreichen sie ihre Landsleute besser als Aussenstehende.

Nadia Bisang: Wir organisieren regelmässig Anlässe für Betroffene und ihre Gemeinschaften. Sogenannte Multiplikatorinnen, also Frauen aus der Gemeinschaft selbst, führen durch die Gesprächsrunden. Oft werden auch Männer dazu eingeladen. Die Diskussionen, die so entstehen, sind äusserst spannend. Erst kürzlich fragte ein junger somalischer Mann: ‹Wie könnt ihr Mütter, die ihr selbst wisst, wie schmerzhaft diese Prozedur ist, dasselbe euren eigenen Töchtern antun?› Eine Frau antwortete: ‹Ihr Männer seid es ja, die keine unbeschnittenen Frauen heiraten wollt.› Ein anderer Mann aus Somalia erzählte daraufhin, wie belastend es für ihn sei, mit einer beschnittenen Frau verheiratet zu sein. Nicht nur, weil er mitansehen musste, wie schmerzhaft die Geburt für sie war. Sondern auch, weil er beim Sex immer das Gefühl hat, ihr wehzutun. Er rief alle Männer dazu auf, sich gegen die Beschneidung von Frauen zu engagieren.

Von diesen Qualen der Frauen liest man immer wieder. Unabhängig von einem schmerzhaften und daher auch unbefriedigenden Sexleben können vermeintlich alltägliche Dinge wie der Gang zur Toilette problematisch sein. Gilt das für alle Frauen?

Marisa Birri: Nein. Einerseits kommt es auf die Art der Beschneidung an. Die schlimmste Form ist die Infibulation. Dabei wird der Frau nach der Entfernund der Schamlippen und der Klitoris die Vagina zugenäht. Viele dieser Frauen leiden ihr Leben lang unter chronischen Komplikationen wie Entzündungen. Es gibt aber durchaus auch Frauen, die sagen, die Beschneidung beeinträchtige sie kaum oder gar nicht.

Gibt es für Frauen hierzulande überhaupt Möglichkeiten, die Beschneidung beispielsweise mit plastischer Chirurgie rückgängig zu machen?

Marisa Birri: Eine Beschneidung kann nicht rückgängig gemacht werden. Ein französischer Arzt hat jedoch eine Methode entwickelt, um die Klitoris zu rekonstruieren. Da der entfernte Teil quasi nur die Spitze des Eisbergs ist, kann man mit diesem Eingriff die verborgene Partie der Klitoris hervorholen. In der Schweiz wird diese Methode ebenfalls angewandt. In Deutschland wurde zudem eine Methode der plastischen Rekonstruktion der äusseren weiblichen Genitalien entwickelt.

Nadia Bisang: Das Problem ist nicht das fehlende Angebot, sondern, dass es nicht in Anspruch genommen wird. Kaum eine beschnittene Frau unternimmt etwas gegen ihre Verstümmelung. Für viele Frauen ist es bereits ein grosser Schritt, sich für die Geburt die Vagina öffnen zu lassen oder bei gesundheitlichen Komplikationen eine Gynäkologin zu konsultieren. Sie kommen aus Ländern, wo die Genitalbeschneidung mit der Ehre verbunden ist, dies hindert sie daran, etwas dagegen zu tun.

Hat man denn überhaupt irgendeine Vorstellung davon, wie viele Mädchen in der Schweiz jährlich beschnitten werden?

Marisa Birri: Nein. Es werden sogar über die Frage, ob dies in der Schweiz überhaupt geschieht, widersprüchliche Aussagen gemacht. Aus gewissen Gemeinschaften heisst es, man habe diese Praxis hierzulande abgelegt. Andere sagen, sie wüssten, dass sie hier sehr wohl stattfinde. In den letzten Jahren sind aber sicher mehr Frauen aus den entsprechenden Ländern – vor allem aus Somalia und Eritrea – in die Schweiz gekommen. Das heisst, es leben mehr Betroffene hier als vorher.

Wie kann man die Datenerhebung verbessern?

Marisa Birri: Zum Beispiel könnten Spitäler die Anzahl Behandlungen von beschnittenen Mädchen und Frauen festhalten. Wenn es dazu ein schweizweites Register gäbe, könnte man auch die Entwicklung nachverfolgen und somit herausfinden, ob die Zahl von Genitalverstümmelungen zu- oder abnimmt.

Nadia Bisang: Wir wünschen uns auch ein gross angelegtes Monitoring. Das heisst, dass auch Sozialarbeiter, Gynäkologen und alle anderen Menschen, die mit beschnittenen Frauen Kontakt haben, Daten erheben. Damit könnte man Weiterbildungen, Beratungen und konkrete Abläufe besser planen: Wer ist wofür zuständig? Wer informiert wann? Wer leitet wen an welche Stelle weiter? All das ist nicht geregelt.

Internationaler Tag der Nulltoleranz gegen weibliche Genitalverstümmelung

Terre des Femmes und Caritas Schweiz organisieren mit der Unterstützung von Amnesty International Schweiz am Samstag, dem «Internationalen Tag der Nulltoleranz gegen weibliche Genitalverstümmelung», eine Mahnwache auf dem Bahnhofplatz Bern, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Sie dauert von 17.30 bis 18.30 Uhr.

Programm:

- Begrüssung

- Kerzenaktion begleitet von Sängerin Fatoumata Dembélé

- Statements von zwei Frauen, die sich in ihren Gemeinschaften gegen weibliche Genitalbeschneidung engagieren

Marisa Birri ist Projektleiterin bei Terre des femmes Schweiz

Nadia Bisang ist Projektleiterin bei Caritas Schweiz

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