In den Mühlen der JustizWegen Selfie mit Kind unter Pädophilie-Verdacht
Peter Peyer macht fast täglich Selfies mit Menschen, die ihm sympathisch sind. Eines Tages tat er dies mit einem neunjährigen Mädchen. Danach war nichts mehr wie zuvor.

Dieses Selfie hat Peter Peyer ins Gefängnis gebracht.
«Passt auf, wenn ihr Kinder fotografiert. Es kann euch so gehen wie mir.»
Der Schnauz. Der wurde ihm wohl zum Verhängnis. Geringelt auf beiden Seiten, zu zwei Loopings gezwirbelt – mit Gel präpariert, damit er seine Form nicht verliert. Peter Peyer, Aargauer, genannt Pidu, heute 61, ist sich seiner aussergewöhnlichen Erscheinung bewusst. Bewusst hat er auch den Entscheid dazu getroffen. «Millennium, im Jahr 2000, ich schaute in den Spiegel und dachte: Langweiliges Gesicht, da muss ich etwas ändern.»
Denn langweilig passt nicht zu Peyer. Er schwimmt gerne gegen den Strom, zieht sein eigenes Ding durch. Sein Hemd ist bunt, knallig. Gelbe Bananen, grüne Trauben, rote Peperoni, orange Rüben. Seine braunen Haare sind auf der Seite kurz geschnitten, oben länger und blond gebleicht. Er fällt auf.
Deshalb sprach ihn an jenem Tag, dem 12. März 2014 – an dem eine Maschinerie in Gang gesetzt werden sollte, die sein Leben auf den Kopf stellen würde – auch dieses Mädchen an. C.C.*, neun Jahre alt, italienischer Herkunft. «Sie haben aber einen lustigen Schnauz», sagte sie und lächelte Peyer an.
«Das war so eine aufgeweckte Bohne»
Er fühlte sich geschmeichelt, begann mit dem Mädchen ein Gespräch. Während dreier Minuten, zwischen der Tramhaltestelle Technopark Zürich bis zum Arbeitsplatz. Dann passierte der Fehler: Peyer fragte das Mädchen, ob er ein Selfie mit ihr machen dürfe.
«Ich mache das seit Jahren. Ich werde häufig von Menschen auf meinen Schnauz angesprochen und mit den sympathischen mache ich immer eine Foto.» Er hat über 3000 solche Bilder auf seinem iPad. Kinder sind kaum dabei. Peyer kniete sich also neben sie hin, beide lächelten vergnügt in die Kamera – und er drückte ab. Das wars, sie verabschiedeten sich und Peyer ging zur Arbeit.
Im Büro erzählte er seinen Kollegen vom Treffen mit dem damals neunjährigen Mädchen. «Die Kleine hat mir den Tag versüsst.» Er ahnte nicht, was gleichzeitig in der Schule von C. C. passierte. Denn das Mädchen erzählte ebenfalls vom Treffen, erzählte einer Sozialarbeiterin von dem Mann, der mit ihr ein Foto machen wollte.
«Da dachten sie wohl, jetzt haben wir so ein Schwein»
Ein paar Tage später traf Peyer das Mädchen erneut per Zufall. Wie sich später herausstellte, wohnte das Kind damals nur wenige hundert Meter von Peyers Arbeitsort entfernt. An diesem Tag sass sie auf der Treppe vor ihrer Haustüre, als Peyer auf seinem Heimweg an ihr vorbei lief. Als sie ihn erblickte, riss sie die Augen auf und «flüchtete zu Tode erschrocken», wie im Protokoll der Polizei zu lesen ist.
«Ich verstand die Welt nicht mehr», sagt Peyer. Er habe nur «Hallo» gesagt und die Kleine sei davongerannt, als habe sie einen Geist gesehen. Da wurde ihm klar: Etwas ist hier schiefgelaufen. Während der folgenden Tage bemerkte er ein Auto, das ihm überallhin folgte. Als er schliesslich einen Blick hineinwerfen konnte, sah er eine erwachsene Person am Steuer und auf dem Beifahrersitz sass C. C. «Sie haben mich verfolgt. Wollten wissen, wohin ich gehe und was ich tue.»
Aus den Akten habe er später erfahren, dass die Familie ihn während zweier Monate auf eigene Faust beschattet und sogar gefilmt hatte. «Wochen später stieg ich in Dietlikon am Bahnhof aus und hörte jemanden aus einem Auto ‹Pädophiler› rufen. Ich geriet in Panik, dachte, ich sei paranoid geworden. Eigentlich hätte ich da auf meine Frau hören sollen.»
Liliane und Peter Peyer kennen sich seit 42 Jahren, sind seit 36 verheiratet. «Ich habe ihm gesagt, er solle Anzeige erstatten, wenn er sich bedroht fühlt», sagt seine Frau. Doch Peyer liess die Sache auf sich beruhen.
Am 27. Mai, mehr als drei Monate nach dem verhängnisvollen Foto, kontaktierte die Schulsozialarbeiterin von C. C. die Fachgruppe Kinderschutz der Stadtpolizei Zürich. Sie habe letzte Woche einen Vortrag besucht, an dem zwei Polizisten in einem Referat gesagt hätten, verdächtige Situationen mit Kindern müssten sofort gemeldet werden. «Da sie so eine Situation kenne, möchte sie dies gerne melden», steht im Polizeibericht. Sie sprach von Peter Peyer und C. C.
Am Freitag, 13. Juni – einen Tag vor seinem 60. Geburtstag – wurde Peter Peyer verhaftet. Straftatbestand: Pornografie und sexuelle Handlungen mit Kindern.
Um 6.15 Uhr standen sechs in zivil gekleidete Polizisten vor seinem Hauseingang. «‹Machen Sie auf›, riefen sie mir zu. Ich ging noch in den Unterhosen auf den Balkon. ‹Polizei, wir haben einen Durchsuchungsbefehl. Machen Sie auf!›»
Peyer wollte noch rasch eine Hose anziehen. Kaum hatte er den letzten Knopf zugemacht, klingelte es an seiner Tür. «Eine Nachbarin hatte sie wohl eingelassen.» Und dann ging es los: Während zweieinhalb Stunden durchwühlten die Beamten die gesamte Wohnung, fotografierten jeden Winkel, jede Ecke, jeden Gegenstand.
«Sie gingen in den Keller hinunter, in den Nebenraum, in die Garage, durchsuchten mein Auto. Schliesslich nahmen sie alles mit, worauf man ein Foto speichern konnte.» Das Inventar erstreckt sich über drei Seiten: iPods, iPads, iPhones, Laptops, PCs, Memorysticks, Kameras, Fotoserver, Back-ups. «Alles nahmen sie mit. Und mich.»
«Ich kam mir vor wie ein Schwerverbrecher»
Für eine Hausdurchsuchung und ein Verhör müsse der Tatverdacht nicht enorm gross sein, sagt Daniel Jositsch, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Zürich. «Die Staatsanwaltschaft entscheidet dies nach genauer Abwägung.» Dass man bei einem Mann, der im Verdacht stehe, Pornos von Kindern herzustellen, schneller reagiere als bei einem, von dem man vermute, dass er ein Bagatelldelikt verübt habe, liege auf der Hand.
Vor allem die Medien und die Gesellschaft machten den Behörden auf diesem Gebiet enormen Druck, so Jositsch. «Stellen Sie sich vor, die Staatsanwaltschaft hätte nicht reagiert und im Nachhinein wäre herausgekommen, dass der Mann tatsächlich Kinderpornos herstellt – das hätte einen Skandal gegeben.» Aber natürlich sei das für jemanden, der nichts verbrochen habe, extrem unangenehm.
An der Kasernenstrasse 31 sperrten sie Peyer in den Bunker Abstand 3. Betonbank, eine Lampe, kein Fenster, kein Sonnenlicht, keine Griffe an der Türe, nur glatte Wände, Schuhtritte und Graffiti an den Wänden, «Fuck the police». «Mir hat es die Luft abgeschnürt.»
Für die Personenkontrolle nahmen sie Peyers Fingerabdrücke und drückten ihm einen Zettel mit dem Straftatbestand in die Hand. Pornografie und sexuelle Handlung mit Kindern.
«Ich konnte es nicht glauben.»
Weil Peyer Software-Entwickler ist und auf seinem Xing-Profil unter Interessen «Fotografie, Bildbearbeitung und Computer mit allem drum und dran» angegeben hatte, vermutete die Polizei, dass er «Fotos von Kindern zu kinderpornografischem Material verarbeitet und somit verbotenes pornografisches Material besitzt», wie es im Hausdurchsuchungsbefehl heisst.
Der Ermittler verhörte ihn während Stunden: «Was machen Sie im Schlafzimmer? Welche sexuellen Präferenzen haben Sie? Was fotografieren Sie? Menschen? Welche Menschen? Kinder? Was haben Sie für eine Einstellung zu Kindern?»
«Wir wollten eigentlich auch Kinder, ich hatte schliesslich aber eine Scheinschwangerschaft und danach gaben wir den Wunsch auf», sagt Liliane Peyer. Den Entscheid hätten sie gemeinsam getroffen.
Das iPad und das iPhone bekam Peyer am gleichen Tag noch zurück. Den Rest behielt die Polizei. «Ich bin ein IT-Mensch, die haben mein ganzes Leben dabehalten. Sieben Monate lang.»
Peyer durfte gehen. Am Arbeitsplatz erzählte er davon. «Die meisten waren schockiert, aber die Mütter sagten alle dasselbe: ‹Pidu, du musst das verstehen, so was kannst du einfach nicht machen.›» Sein Anwalt, Bernhard Jüsi, habe zu ihm gesagt: «Herr Peyer, bei Ihrem Erscheinungsbild müssen Sie sich nicht wundern, dass Sie ins Visier der Polizei geraten.»
Der Schnauz gehöre zu Pidu wie das Amen zur Kirche, sagt Ehefrau Liliane. «Pidu ist ein Spezieller, das ist so. Er ist der liebste Mensch auf der Welt.» Lob und Bestätigung haben in Peyers Leben aber lange nicht existiert. «Er hatte nicht viel Selbstwertgefühl, war unsicher.» Vielleicht kompensiere er damit etwas, das möge sein, aber er tue dies auf eine wundervoll, sympathische Art, die niemandem schade, sagt Liliane.
Strafverteidiger Jüsi kann sich noch gut an Peyer erinnern. Er sei halt auffällig, sagt auch er. Man müsse sich auch in die Situation des Ermittlers versetzen, so der Strafverteidiger. «Der dachte vielleicht, der Schnauz sei eine Masche, ein Trick, um Kinder dazu zu bringen, ihn anzusprechen.» Er habe ihn jedoch wunschgemäss nur beraten und nicht verteidigt, sagt Jüsi «Ich sah kein Risiko. Ich habe ihm geglaubt.» Gelitten habe Peyer aber auf jeden Fall – während der Verhaftung und wohl auch wegen des langen Verfahrens.
Ja, sagt Peyer. Die Zeit nach seinem Verhör war fast die schlimmste. Er wusste nicht, was auf ihn zukommt, er wusste nicht, wann es weitergeht, er wusste nicht, was mit ihm passieren würde. «Das schnürt einem die Brust ab, unterschwellig ist es immer da. Auch in den Ferien.» Fragen über Fragen: Was kostet das alles? All diese Gigabytes zu sichten? Wer bezahlt das? Kann ich mir das leisten? Was, wenn ich nicht entlastet werde? Soll ich an die Öffentlichkeit gehen?
Peyer entschloss sich, dem zuständigen Staatsanwalt Daniel Kloiber einen Brief zu schreiben. Mit all den Fragen und der Bitte, ihn zu informieren. Die Antwort folgte prompt: «Gerne erwarte ich Sie zu einer Besprechung zu Ihrem Fall in meinem Büro.» Endlich ging es weiter.
Er habe lange hin und her überlegt, sagt Staatsanwalt Daniel Kloiber. «Es war kein glasklarer Entscheid. Man hätte in diesem Fall so oder so entscheiden können, beide Lösungen wären vertretbar.» Alles, was er gehabt habe, sei eine Anzeige mit der Behauptung, ein Mädchen sei auf dem Schulweg von einem Mann angesprochen und fotografiert worden. «Da haben bei mir die Alarmglocken geläutet.» Nach Rücksprache mit der Kinderschutzabteilung Stadtpolizei Zürich habe er schliesslich entschieden, Peter Peyers Haus zu durchsuchen und ihn zu vernehmen.
18. Dezember, die Erleichterung. Einstellungsverfügung. Im Bericht steht: «Auf den sichergestellten Datenträgern konnten keinerlei Dateien mit kinderpornografischem Inhalt festgestellt werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich der anfängliche Verdacht, der Beschuldigte sei an sexuellen Handlungen mit Kindern interessiert, in keiner Weise erhärtet wurde, sondern im Gegenteil sich in Luft auflöste. Das Verfahren ist deshalb in diesem Punkt wegen erwiesener Unschuld des Beschuldigten in staatsanwaltschaftlicher Kompetenz einzustellen.»
Peyer bekam eine Genugtuung von 1000 Franken. Diese Entschädigung zeige ganz klar: «Da war nichts», sagt Berhard Jüsi.
«Wenn ich heute Kinder sehe, mache ich mich aus dem Staub. Ich sehe sie als Gefahr»
Peyer sagt, ihm gehe es nicht darum, jemanden zu beschuldigen. Im Grunde könne er die Angst der Mütter um ihre Kinder ja verstehen. Auch wenn er selbst keine habe. «Aber ich glaube, viele Menschen sind sich nicht bewusst, was mit einem geschieht, wenn man zu Unrecht wegen Pornografie und vor allem wegen sexueller Handlungen mit Kindern angezeigt wird.» Ihn hat das völlig fertiggemacht. «Ohne meine Frau, ohne mein Umfeld, ohne das Vertrauen, das ich stets von meinen Freunden gespürt habe, hätte ich das nicht unbeschadet überstanden.»
Er wolle kein Mitleid erregen, wolle auch nicht als Opfer dastehen. Seine Geschichte sei nur eine Warnung: «Passt auf, wenn ihr Kinder fotografiert. Es kann euch so ergehen wie mir.»
*Name der Redaktion bekannt.
So geht die Stadt vor
Die Sozialarbeiterin, die Peter Peyer bei der Polizei angezeigt hatte, wollte zum konkreten Fall keine Stellung nehmen. Auch Nadine Grunder, Sprecherin Soziale Dienste der Stadt Zürich, äussert sich dazu nicht. Grundsätzlich habe der Schutz und die Integrität der Kinder höchste Priorität, sagt sie. «Bevor wir einen Vorfall melden, wägen wir genau ab und diskutieren die Angelegenheit mindestens zu zweit.» Sie hätten eine grosse Verantwortung gegenüber den Kindern. «Diese nehmen wir ernst und handeln daher auch, wenn ein Verdacht besteht», so Grunder.
Die Mutter von C. C. war für 20 Minuten nicht erreichbar.