«Das Untertauchen von Asylbewerbern stoppen»

Aktualisiert

Saïda Keller-Messahli«Das Untertauchen von Asylbewerbern stoppen»

Islamkennerin Saïda Keller-Messahli sagt, die Schweiz müsse Lehren aus dem Fall Anis Amri ziehen. Ein grosses Problem sei, dass viele Asylbewerber untertauchten.

von
daw
«Leider haben wir mehrere Nester von Salafisten in der Schweiz», sagt Saïda Keller-Messahli vom Forum für einen fortschrittlichen Islam.
Beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember starben 12 Menschen.
Als Fahrer des Lastwagens wurde der 24-jährige Tunesier Anis Amri identifiziert.
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«Leider haben wir mehrere Nester von Salafisten in der Schweiz», sagt Saïda Keller-Messahli vom Forum für einen fortschrittlichen Islam.

Keystone/Christian Beutler

Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt hielt sich laut der «SonntagsZeitung» zwei Wochen lang in der Schweiz auf, zudem wollte er noch im Sommer in einem Fernbus einreisen, wurde aber in Friedrichshafen gestoppt. Was wollte er in der Schweiz, Frau Keller-Messahli*?

Darüber kann ich nur spekulieren. Amris Schwester Nejwa sagte, er habe Arbeit suchen wollen. Sehr wahrscheinlich hatte er Bekannte in der Schweiz. Interessant wäre es zu wissen, wohin er reisen wollte.

Die Schweizer Behörden haben Amri – soweit heute bekannt – nicht registriert. Überrascht Sie das?

Nein. Die Behörden können nicht jeden erfassen, der über die Grenze kommt. Die Schweiz ist Mitglied des Schengenraums, zu dem offene Grenzen gehören.

Amri hatte Kontakt zum irakischstämmigen Hassprediger Abu Walaa, der Kämpfer für den IS rekrutiert haben soll. Laut Terrorexperte Johannes Saal hat Walaa auch in der Schweiz Anhänger (siehe Box).

Leider haben wir mehrere Nester von Salafisten in der Schweiz. Der extremistische Prediger Abu Walaa hat ganz bestimmt Verbündete in der Schweiz. Allein das Pseudonym «Walaa» zeugt von dessen Radikalität: Es bedeutet «Loyalität» und bezieht sich auf eine den Salafisten heilige Doktrin, wonach sie nur richtigen Muslimen die Treue halten und sich lossagen von allen anderen, die sie als Feinde des Islams betrachten.

Mittlerweile hat der NDB 480 Jihadisten auf dem Radar. Warum wächst die Szene so rasant?

Radikales Gedankengut funktioniert wie eine Infektion. Die Erreger dringen sehr schnell in das islamische Milieu ein, weil die Salafisten und Jihadisten an niedrigste Instinkte appellieren: Macht, Rache, Männlichkeit, Heldentum. Solche Kategorien sprechen viele sozial frustrierte Männer und manchmal auch Frauen an.

Die Politik will aus dem Berliner Anschlag Lehren ziehen: Asylbewerber sollen am Untertauchen gehindert, Jihadisten in Präventivhaft genommen werden. Was halten Sie davon?

Es ist höchste Zeit für solche Massnahmen. Das Untertauchen von mehr als der Hälfte der Asylbewerber ist ein gravierendes Problem und muss unbedingt verhindert werden. Und für sogenannte Gefährder müssen wir auch eine neue gesetzliche Grundlage schaffen, um sie entweder ausschaffen oder in Präventivhaft nehmen zu können. Zudem dürfen wir nicht ohnmächtig und abhängig von Staaten bleiben, die ihre Bürger nicht zurücknehmen wollen. Wer ausgeschafft werden muss, sollte in Haft sein, bis sein Herkunftsland Ausreisepapiere bereitstellt.

Gerade Ihr Herkunftsland, Tunesien, weigert sich häufig, abgewiesene Landsleute wie Anis Amri zurückzunehmen oder verschleppt die Verfahren. Warum?

Seit der Machtergreifung der Islamisten ist Tunesien zum wichtigsten Exporteur von Jihadisten weltweit geworden. Die Islamisten haben die Rekrutierung in armen Vierteln und in Moscheen vorangetrieben. Tunesien scheint nun mit Jihad-Rückkehrern total überfordert zu sein. Das Land hat fast 1000 Rückkehrer zu überwachen, Frauen und Männer. Regelmässig fordern säkulare Kräfte, dass man den Jihadisten die tunesische Staatsangehörigkeit entzieht, weil sie sie nicht im Land haben wollen. Sie erachten diese Leute als Landesverräter, als Kriminelle und als Schande für ihr Land. Gut möglich, dass das offizielle Tunesien diesem Druck aus der Zivilgesellschaft nachgeben möchte.

* Saïda Keller-Messahli ist Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam. Sie wurde in Tunesien geboren.

Spuren führen in die Schweiz

Der junge Tunesier Anis Amri verkehrte im Netzwerk des Hasspredigers Abu Walaa im niedersächsischen Hildesheim. Terrorexperte Johannes Saal von der Uni Luzern hat im «SonntagsBlick» auf Verbindungen in die Schweiz hingewiesen. So liess Abu Walaa über den Nachrichtendienst Telegram vermelden, Brüder aus der Schweiz hätten Gelder für die Moschee in Hildesheim gesammelt. Saal: «Es ist klar: Abu Walaa hatte Anhänger in der Schweiz, möglicherweise aus den Salafisten-Netzwerken in Winterthur oder den beiden Basel.» Auch habe einer der Winterthurer Jihad-Reisenden Walaa auf Facebook gelikt. «All das sind Indizien für die Strahlkraft des radikalen Predigers im ganzen deutschsprachigen Raum.»

Der Wissenschaftler sagt, man habe die Jihadisten-Szene auch in der Schweiz zu lange geduldet. Dabei sei ein frühzeitiges Eingreifen zentral: «Ist die Radikalisierung weit fortgeschritten, ist es zu spät für präventive Massnahmen und eine therapeutische Begleitung.» Gleichzeitig stelle er bei den Geheimdiensten und den Anti-Terror-Ermittlern eine gewisse Überforderung fest: «Es fehlt an den Ressourcen. Bei der grossen Anzahl Gefährder ist eine lückenlose Überwachung kaum möglich.» Auch die Schweizer Bundesanwaltschaft komme bei Dutzenden von Fällen an ihre Grenzen.

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