Debatte um kulturelle Aneignung«Weisse, hört auf, Dreadlocks zu tragen»
Sollen Weisse Dreadlocks tragen und mit Blues Geld machen? Nein, findet die Präsidentin der SP-Migranten Zürich. Die Bewegung gegen Cultural Appropriation wächst weltweit.
Im Herbst schickte die Stardesignerin Stella McCartney ihre Models in afrikanischen Kleidern über den Laufsteg. Die Empörung folgte prompt: «Liebe westliche Modehäuser, bitte hört auf, Designs zu benutzen, die Afrikaner seit Jahren tragen, sie euer Eigen zu nennen und die Leute dafür einen Haufen Geld zahlen zu lassen. Danke», schrieb etwa das Onlinemagazin Okayafrica.com. Auf Twitter geriet McCartney ebenfalls unter Beschuss.
Auch Designer Marc Jacobs musste Kritik einstecken, weil er seine vorwiegend weissen Models, darunter Gigi Hadid, mit bunten Dreadlocks über den Laufsteg geschickt hatte. Chanel löste mit einem Bumerang für 2000 Euro in den sozialen Medien einen Shitstorm aus. Es sei rassistisch, den Bumerang, der ursprünglich die Waffe australischer Aborigines war, nun als teures Sportaccessoire zu verkaufen, so der Vorwurf.
«Weisse tragen schwarze Frisuren völlig naiv»
Die Bewegung gegen Cultural Appropriation, also der kulturellen Aneignung, wächst (siehe Box). Ihr gehört auch Yvonne Apiyo Brändle-Amolo an. Sie findet es eine Frechheit, wenn weisse Designer Models in afrikanischer Kleidung auf den Laufsteg schicken. Die 41-jährige Kenianerin, die seit 17 Jahren in der Schweiz lebt, ist Präsidentin der SP-MigrantInnen Zürich. «Wir tragen diese Kleidung seit Jahrhunderten. Nie haben wir dafür Lob erhalten. Doch sobald sich ein Weisser ihrer annimmt und sie als seine neueste Kreation verkauft, wird er dafür in den Himmel gelobt und macht viel Geld damit.»
Brändle-Amolo findet es auch stossend, wenn Weisse afrikanische Frisuren tragen oder afrikanische Musik spielen. «Tragen wir Schwarzen einen Afrolook oder Dreadlocks, dann gilt die Frisur als ungepflegt. Sobald aber Kim Kardashian Cornrows trägt, ist es ein Riesentrend», sagt die Künstlerin und interkulturelle Mediatorin. Weisse trügen die Frisur völlig naiv, ohne zu wissen, was überhaupt dahinterstecke: «Die Cornrows stellten Landkarten dar und dienten Sklaven als Fluchtweg aus den Plantagen.»

Yvonne Apiyo Brändle-Amolo, Präsidentin der SP-MigrantInnen Zürich
Das Gleiche beobachtet Brändle-Amolo bei Hoop-Earrings, die gerade angesagt sind. Solange sie nur die Schwarzen oder Latinas getragen hätten, seien die Kreolen als billiger Bling-Bling-Schmuck belächelt worden. Jetzt, da sie die Weissen als hip deklariert hätten, würden sich alle daraufstürzen.
«Hoop earrings are my culture, not your trend», lautete auch der Titel einer auf Vice.com veröffentlichten Geschichte. Die anonyme Autorin südamerikanisch-australischen Ursprungs schrieb: «Kreolen werden von Minderheiten als Zeichen des Widerstands und der Stärke getragen. Überlege es dir zweimal, bevor du sie trägst.» Diese anzuziehen sei, als ob man die Identität dieser Leute stehlen würde, die einst hart gegen koloniale Strukturen gekämpft hätten.
«Weisse, hört auf, unsere Kultur zu übernehmen»
Kulturelle Aneignung sei in der Vergangenheit schon mit der Musik passiert: «Ich finde es problematisch, wenn Weisse Blues und Jazz spielen und unsere Musik monetarisieren. Die Weissen haben doch schon ihre Musik, etwa Klassik.» Sklaven hätten Blues gesungen, um sich damit gegenseitig Mut zu geben. «Es war eine Überlebensstrategie. Ihnen war es untersagt, weisse Musik zu spielen. Aber die Weissen dürfen natürlich ohne weiteres schwarze Musik machen.»
Ein Stück weit fühle sie sich durch diese kulturelle Aneignung ihrer eigenen Kultur beraubt. Die Weissen hätten doch schon so eine reiche Kultur: «Warum müssen sie diese noch durch exotische Elemente aufpeppen?»
Darum der Appell von Brändle-Amolo: «Weisse, hört auf, unsere Kultur zu übernehmen und damit Geld zu machen, Dreadlocks oder afrikanische Kleidung zu tragen. Tragt unseren Schmuck und hört unsere Musik als Zeichen der Integration und der Anerkennung afrikanischer Kultur. Und nicht als austauschbarer Konsumartikel, an dem alle verdienen, nur nicht die Urheber.» Mit dieser Forderung stehe sie nicht allein da: «Viele meiner Kolleginnen der Black Community teilen diese Meinung. Wir wehren uns dagegen, dass unsere Kultur unreflektiert übernommen und zu Geld gemacht wird.»
Brändle-Amolo tritt regelmässig in Trachten als Jodlerin auf. Diese Art der kulturellen Aneignung findet sie unproblematisch: «Ich imitiere die Schweizer Kultur nicht, um damit Geld zu machen, sondern um mich zu integrieren und meiner neuen Heimat Anerkennung zu zollen. Und davon abgesehen, sind Trachten einfach schön, und es macht Spass, sie zu tragen.»
«Stolz, wenn viele Menschen afrikanische Kulturgüter benutzen»
Céleste Ugochukwu, Präsident des Afrikanischen Diasporarates der Schweiz, dagegen kritisiert die Bewegung gegen kulturelle Aneignung: «Ich bin dagegen, Weissen bestimmte Frisuren, Kleider, Accessoires oder Musikstile generell zu verbieten. Im Gegenteil: Es macht mich stolz, wenn so viele Menschen wie möglich afrikanische Kulturgüter benutzen. Was gibt es für bessere Marketinginstrumente, um Afrika im Westen zu promoten? So können wir der Welt zeigen, wie reich die afrikanische Kultur ist.»

Céleste Ugochukwu, Präsident des Afrikanischen Diasporarates in der Schweiz
Im besten Fall könne die afrikanische Wirtschaft davon profitieren, etwa über den Handel oder den Tourismus. Jedoch sei es wichtig, dass für afrikanische Produkte faire Preise bezahlt würden. Und auch das Image könnte aufgebessert werden: «Es ist doch erfreulich, wenn die hiesige Gesellschaft Afrika nicht ständig als unterentwickelten Kontinent wahrnimmt, sondern seine kulturellen Errungenschaften wertschätzt», sagt Ugochukwu. Auch interkulturelle Beziehungen könnten so gestärkt werden.
Hinter der Bewegung gegen Cultural Appropriation ortet Ugochukwu möglicherweise Minderwertigkeitskomplexe und die Angst vor der Macht der Weissen: «Es gibt noch Schwarze, die sich den Weissen gegenüber unterlegen fühlen. Imitieren die Weissen ihre Kultur, empfinden sie das als eine Art Raub an ihrer Kultur.» Man sollte Afrika nicht immer als armes Opfer instrumentalisieren. «Wir müssen alle am Projekt "Rebranding Africa" mitmachen, global mitspielen und die Welt erobern.»
Daniel Bühler, Präsident des Vereins Eine Welt und Organisator der Afro-Pfingsten in Winterthur, hat ein Stück weit Verständnis für die neue Bewegung. «Ich verstehe den Unmut, wenn nur Einzelne in der Produktionskette das grosse Geld machen.» Bühler sagt aber auch: «Wenn Weisse keine Dreadlocks mehr tragen sollen – dürften dann auch Südafrikaner nicht mehr in Anzug und Krawatte rumlaufen, weil es nicht zu ihrer Kultur gehört?» Es gäbe angesichts der globalen Armut weit grössere Probleme als einen Weissen mehr oder weniger, der Dreadlocks trage.
«Weisse haben nicht die Geschichte von Sklaverei und Rassentrennung durchlebt»
Der Soziologe Jens Kastner hält die Kritik an der Cultural Appropriation für berechtigt und wichtig. «Weisse – oder allgemeiner: Angehörige der sogenannten Dominanzkultur – haben sich kulturelle Ausdrucksformen angeeignet und davon profitiert. Allerdings mussten sie dabei nicht die Geschichte von Sklaverei und sogenannter Rassentrennung durchleben», schreibt Kastner im Deutschlandfunk.
Doch Kastner warnt auch: «Wer von schwarzer Kultur redet, unterstellt implizit, es gäbe bestimmte Gemeinsamkeiten zwischen schwarzen US-Amerikanern und Schwarzen aus Südafrika, zwischen Anhängern der Rastafarian-Sekte und ehemaligen Spitzenpolitikerinnen wie Condoleezza Rice.» Damit werde ethnische Zugehörigkeit essenzialisiert, das bedeute, es werde unterstellt, schwarze Menschen würden einzig und allein aufgrund ihrer Hautfarbe bestimmte Eigenschaften miteinander teilen. «In der Geschichte des Kolonialismus und des institutionalisierten Rassismus hat dieser Essenzialismus eine zentrale und verheerende Rolle gespielt, um die brutale Unterdrückung und Entrechtung zu legitimieren», schreibt Kastner.
Ist Cultural Appropriation Rassismus mit umgekehrten Vorzeichen? Nein, findet Brändle-Amolo: ««Im Gegensatz zu den Weissen nehmen wir ihnen nichts weg. Wir verlangen nur, dass sie den afrikanischen Ursprung ‹ihrer› Kreationen klar deklarieren und einen Teil des Gewinns in Afrika reinvestieren. Mit umgekehrten Rassismus hat das nichts zu tun.» So sei denn auch die 50-Prozent-Quote für Studenten an einigen Universitäten kein umgekehrter Rassismus, sondern diene dazu, die nicht vorhandene Chancengleichheit herzustellen.
#Culturalappropration trendet auf Twitter. Auch indigene Amerikaner und Asiaten prangern die kulturelle Aneignung an und warnen etwa vor unangebrachten Kostümen an Halloween:
Es gibt aber auch Gegenstimmen:
Cultural Appropriation
Politische Aktivisten, Intellektuelle und Künstler kritisieren, Mode, Pop und Gesellschaft würden sich hemmungslos an den kulturellen Errungenschaften von Minderheiten bedienen, damit Geld verdienen und Anerkennung gewinnen, ohne von all dem systematischen Übel, dem Schwarze ausgesetzt sind, überhaupt zu wissen. Und: Bei den eigentlichen Urhebern käme vom Glamour und Prestige nichts an.